Lehrbuch für den

religiös-sittlichen Unterricht

in freireligiösen Gemeinden

 

II. Teil

1904

 

von

Georg Schneider

 


 


 

 

 


Lehrbuch für den religiös-sittlichen Unterricht in
freireligiösen Gemeinden

II. Teil

von Georg Schneider[1]

Erschienen:

Neuer Frankfurter Verlag

1904, Frankfurt

 

 

 

 

 

Auszugsweise Wiedergabe des Teils über die Geschichte der Freireligiösen Bewegung unter dem jetzt gewählten Titel: "Die Freireligiöse Bewegung - Anfänge -"

 

2015

Selbstverlag

Lothar Geis (Herausgeber)

Mainz
 

 

 

 

 

 

 

 

Die Freireligiöse Bewegung

Die freireligiöse Bewegung unserer Tage ist das Produkt zweier reformistischer Bewegungen des 19. Jahrhunderts; die eine derselben vollzieht sich innerhalb der katholischen Kirche und ist unter dem Namen „Deutschkatholizismus“ bekannt geworden; die andere durchzittert den Protestantismus und wird getragen von dem Verein der „protes-tantischen Freunde“. Die Zeit dieser Doppelbewegung war das vierte Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts; sie erweist sich als die unumgängliche, praktische Konsequenz der ihr
vorausgegangenen aufklärerischen Bestrebungen.

Der Deutschkatholizismus

Wie die Reformation des 16. Jahrhunderts, so bedurfte auch die des 19. Jahrhunderts, wiewohl längst vorbereitet, eines äußeren Anstoßes. Sie fand denselben in der Ausstellung des sogenannten Heiligen Rockes zu Trier durch den Bischof Arnoldi. Der außerordentliche Zulauf, dessen sich die Ausstellung dieser Reliquie zu erfreuen hatte, die abgöttische Verehrung, die ihr zuteilwurde, die Riesen-opfer, die der abgöttischen Pilgerschaft aus aller Herren
Länder damit zugemutet  wurden, endlich die der Reliquie angedichteten Wunderkraft erregten bei allen vorurteilsfreien, denkenden Menschen Anstoß und Widerspruch.

Den wirksamsten Ausdruck fand dieser Widerspruch in dem offenen Sendschreiben des katholischen Priesters Johannes Ronge in Laurahütte vom 1. Oktober 1844.

Der Wortlaut des Sendschreibens, das am 15. Oktober des genannten Jahres in den „Sächsischen Vaterlandsblättern“ erschien, ist folgender:


Laurahütte, den 1. Oktober 1844

 

Urteil eines katholischen Priesters über den

Heiligen Rock zu Trier

 

Was eine Zeitlang wie Fabel, wie Märe an unser Ohr
geklungen: dass der Bischof Arnoldi von Trier ein
Kleidungsstück, genannt der Rock Christi, zur Verehrung und religiösen Schau ausgestellt, ihr habt es gehört, Christen des 19. Jahrhunderts, ihr wisst es, deutsche Männer, ihr wisst es, deutsche Volks- und Religionslehrer, es ist nicht Fabel und Märe, es ist Wirklichkeit und Wahrheit.

Denn schon sind, nach den letzten Berichten, fünfmal hunderttausend Menschen zu dieser Reliquie gewallfahrt, und täglich strömen andere Tausende herbei, zumal, seitdem erwähntes Kleidungsstück Kranke geheilt, Wunder gewirkt hat. Die Kunde davon dringt durch die Lande aller Völker, und in Frankreich haben Geistliche behauptet: „Sie hätten den wahren Rock Christi, der zur Trier sei unecht.“

Wahrlich, hier finden die Worte Anwendung: „Wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verlieren kann, der hat keinen zu verlieren.“

Fünfmal hunderttausend Menschen, fünfmal Hunderttausende verständige Deutsche sind schon zu einem Kleidungsstücke nach Trier geeilt, um dasselbe zu verehren oder zu sehen! Die meisten dieser Tausende sind aus den niederen Volksklassen, ohnehin in großer Armut, gedrückt, unwissend, stumpf, abergläubisch und zum Teil entartet, und nun entschlagen sie sich der Bebauung ihrer Felder, entziehen sich ihrem Gewerbe, der Sorge für ihr Hauswesen, der Erziehung ihrer Kinder, um nach Trier zu reisen zu einem Götzenfeste, zu einem unwürdigen Schauspiele, das die römische Hierarchie aufführen lässt.

Ja, ein Götzenfest ist es, denn viele Tausende der leichtgläubigen Menge werden verleitet, die Gefühle, die
Ehrfurcht, die wir nur Gott schuldig sind, einem Kleidungsstück zuzuwenden, einem Werke, das Menschenhände gemacht haben. Und welche nachteiligen Folgen haben diese Wallfahrten? Tausende der Wallfahrer darben sich das Geld ab für diese Reise und für das Opfer, das sie dem Heiligen Rock, d. h. der Geistlichkeit, spenden, sie bringen es mit Verlusten zusammen oder erbetteln es, um nach der Rückkehr zu hungern, zu darben oder von den Anstrengungen der Reise zu erkranken.

Sind diese äußeren Nachteile schon groß, sehr groß, so sind die moralischen noch weit größer. Werden nicht
manche, die durch die Reisekosten in Not geraten sind, auf unrechtmäßige Weise sich zu entschädigen suchen? Viele Frauen und Jungfrauen verlieren die Reinheit ihres
Herzens, die Keuschheit, den guten Ruf, zerstören
dadurch den Frieden, das Glück, den Wohlstand ihrer
Familie.

Endlich wird durch dieses ganz unchristliche Schauspiel dem Aberglauben, der Werkheiligkeit, dem Fanatismus und, was damit verbunden ist, der Lasterhaftigkeit Tor und Angel geöffnet. Dies der Segen, den die Ausstellung des Heiligen Rockes verbreitet, von dem es im Übrigen ganz gleich ist, ob er echt oder unecht.

Und der Mann, der dieses Kleidungsstück - ein Werk, das Menschenhände gemacht! - zur Verehrung und Schau
öffentlich ausgestellt hat, der die religiösen Gefühle der leichtgläubigen, unwissenden oder der leidenden Menge irreleitet, der dem Aberglauben, der Lasterhaftigkeit
dadurch Vorschub leistet, der dem armen hungernden
Volke Gut und Geld entlockt, der die deutsche Nation dem Spott der übrigen Nationen preisgibt, und der die Wetterwolken, die ohnehin sehr schwer und düster über unseren Häuptern schweben, noch stärker zusammenzieht, dieser Mann ist ein Bischof, ein deutscher Bischof, es ist der
Bischof Arnoldi von Trier.

Bischof Arnoldi von Trier, ich wende mich darum an Sie und fordere Sie Kraft meines Amtes und Berufes als Priester, als deutscher Volkslehrer, und im Namen der Christenheit, im Namen der deutschen Nation, im Namen der Volkslehrer auf, dies unchristliche Schauspiel der Ausstellung des Heiligen Rockes aufzuheben, das erwähnte Kleidungsstück der Öffentlichkeit zu entziehen und das Ärgernis nicht noch größer zu machen, als es schon ist!

Denn wissen Sie nicht, als Bischof müssen Sie es wissen, dass der Stifter der christlichen Religion seinen Jüngern und Nachfolgern nicht seinen Rock, sondern seinen Geist hinterließ? Sein Rock, Bischof Arnoldi von Trier, gehört seinen Henkern! Wissen Sie nicht, - als Bischof müssen Sie es wissen, dass Christus gelehrt: „Gott ist ein Geist, und wer ihn anbetet, soll ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten?“ Und überall kann er verehrt werden, nicht etwa bloß zu Jerusalem im Tempel, auf dem Berge Garizim oder zu Trier beim Heiligen Rocke.

Wissen Sie nicht, als Bischof müssen Sie es wissen, dass das Evangelium die Verehrung jedes Bildnisses, jeder
Reliquie ausdrücklich verbietet? Dass die Christen der Apostelzeit und der ersten drei Jahrhunderte weder ein Bild noch eine Reliquie (sie konnten deren doch viele
haben!) in ihren Kirchen duldeten? Dass die Verehrung der Bilder und Reliquien heidnisch ist, und dass die Väter der ersten drei Jahrhunderte die Heiden deshalb verspotteten?

Endlich, wissen Sie nicht, als Bischof müssen Sie auch dies wissen, dass der gesunde kräftige Geist der deutschen Völker sich erst im 13. und 14. Jahrhundert durch die Kreuzzüge zur Reliquienverehrung erniedrigen ließ, nachdem man in ihm die hohe Idee, welche die christliche Religion von der Gottheit gibt, durch allerlei Fabeln und Wundergeschichten, aus dem Morgenlande gebracht,
verdunkelt hatte?

Sehen Sie, Bischof Arnoldi von Trier, dies wissen Sie und wahrscheinlich besser, als ich es Ihnen sagen kann, Sie kennen auch die Folgen, welche die götzenhafte Verehrung der Reliquien und der Aberglaube überhaupt für uns gehabt hat, nämlich Deutschlands geistige und äußerliche Knechtschaft, und dennoch stellen Sie Ihre Reliquie aus zur öffentlichen Verehrung!  Doch, wenn Sie vielleicht dies alles nicht wüssten, wenn Sie nur das Heil der Christenheit durch die Ausstellung der Trierschen Reliquie erzielten, so haben Sie doch eine doppelte Schuld dabei auf Ihr Gewissen geladen, von der Sie sich nicht reinigen können.

Einmal ist es unverzeihlich von Ihnen, dass Sie, wenn dem bewussten Kleidungsstücke wirklich eine Heilkraft
beiwohnt, der leidenden Menschheit dieselbe bis zum Jahr 1841 vorenthalten haben.

Zum anderen ist es unverzeihlich, dass Sie Opfergeld von den Hunderttausenden der Pilger nehmen. Oder ist es nicht unverzeihlich, dass Sie als Bischof Geld von der hungernden Armut unseres Volkes annehmen? Zumal Sie erst vor einigen Wochen gesehen haben, dass die Not Hunderte zu Aufruhr und zu verzweifeltem Tode getrieben hat? Lassen Sie sich im Übrigen nicht täuschen durch den
Zulauf von Hunderttausenden und glauben Sie mir, dass, während Hunderttausende der Deutschen voll Inbrunst nach Trier eilen, Millionen gleich mir von tiefem Grauen und bitterer Entrüstung über Ihr unwürdiges Schauspiel erfüllt sind. Diese Entrüstung findet sich nicht etwa bloß bei einem oder dem anderen Stande, bei dieser oder jener Partei; sondern bei allen Ständen, ja selbst bei dem katholischen Priesterstande. Daher wird Sie das Gericht eher ereilen, als Sie es vermuten. Schon ergreift der
Geschichtsschreiber den Griffel und übergibt Ihren Namen, Arnoldi, der Verachtung bei Mit- und Nachwelt und
bezeichnet Sie als den Tetzel des 19. Jahrhunderts! -

Sie aber, meine deutschen Mitbürger, ob Sie nahe oder fern von Trier wohnen, wenden Sie alles an, dass dem deutschen Namen nicht länger eine solche Schmach angetan werde. Sie haben Stadtverordnete, Gemeindevorsteher, Kreis- und Landstände, wohlan, wirken Sie durch
dieselben. Suchen Sie ein jeder nach seinen Kräften und endlich einmal entschieden der tyrannischen Macht der römischen Hierarchie zu begegnen und Einhalt zu tun. Denn nicht bloß zu Trier wird der moderne Ablasskram getrieben; Sie wissen es ja, im Ost und West, im Nord und Süden werden Rosenkranz, Mess-, Ablass-, Begräbnis-gelder und dergleichen eingesammelt, und die Geistesnacht nimmt immer mehr überhand.

Gehen Sie alle, ob Katholiken oder Protestanten, ans Werk, es gilt unsere Ehre, unsere Freiheit, unser Glück. Erzürnen Sie nicht die Manen Ihrer Väter, welche das
Kapitol zerbrachen, indem Sie die Engelburg in Deutschland dulden. Lassen Sie nicht die Lorbeerkränze eines Huss, Hutten, Luther beschimpfen. Leihen Sie Ihren
Gedanken Worte und machen Sie Ihren Willen zur Tat.

Endlich Sie, meine Amtsgenossen, die Sie das Wohl Ihrer Gemeinden, die Ehre, die Freiheit, das Glück Ihrer deutschen Nation wollen und anstreben, schweigen Sie nicht länger, denn Sie versündigen sich an der Religion, an dem Vaterlande, an Ihrem Beruf, wenn Sie länger schweigen, und wenn Sie länger zögern, Ihre bessere Überzeugung zu betätigen. Schon habe ich ein anderes Wort an Sie gerichtet, darum für jetzt nur diese wenigen Zeilen. Zeigen Sie sich als wahre Jünger dessen, der alles für die Wahrheit, das Licht und die Freiheit geopfert; zeigen Sie dass Sie seinen Geist, nicht seinen Rock geerbt haben.

Johannes Ronge, katholischer Priester


 

Die Wirkung dieses Sendschreibens war eine ungeheure; Begeisterung bei allen denjenigen, welche gleich Ronge in jener Trierer Ausstellung eine Verhöhnung des Christentums erblickten, unsägliche Wut aber bei den Veranstaltern der Ausstellung und ihren Fürsprechern. Sofort entspann sich eine heftige literarische Fehde für und wider den Reliquiendienst der katholischen Kirche.

Am 29. Oktober [1844] erhielt Ronge, der nach Erscheinen des Briefes Laurahütte sofort verlassen hatte, von
Seiten des Breslauer Domkapitels die Aufforderung zur Behebung des gegebenen Ärgernisses und der darin
enthaltenen Kränkungen des hochwürdigsten Bischofs Arnoldi zu Trier, einen feierlichen Widerruf in denselben Vaterlandsblättern sowie einigen anderen viel gelesenen Zeitungen zu veranlassen.

Ronge erwiderte unterm 30. November [1844], dass er die Wahrheit gesagt habe und niemals widerrufen werde;
daraufhin wurde unterm 4. Dezember 1844 die Degrada-tion und Exkommunikation in Gemäßheit und Kraft der
kanonischen Gesetze und Bestimmungen über ihn ausgesprochen. Ronge erhielt die Exkommunikationsurkunde zu Breslau, woselbst er sich seit dem 23. November aufhielt, damit beschäftigt, in einer Reihe rasch aufeinanderfolgenden Schriften sein Tun zu rechtfertigen und die Öffentlichkeit für sich zu gewinnen.

Was er der römischen Hierarchie entgegenzustellen forderte, war „ eine freie National-Kirchenversammlung, zusammengesetzt aus frei gewählten Männern und wahren Priestern“, bestimmt, „den Glaubenszwang und die daraus
entstehende Heuchelei, das Pfaffen- und Jesuitentum auf immer zu vernichten, die Religion zu läutern, die Kirche zu ihrem wahren Berufe zu führen, zu dem Berufe, den die Bedürfnisse unserer Völker, der Geist der neuen Zeit ihr auferlegt, nämlich: auszusöhnen den hohen und niederen, den gebildeten und unwissenden, den armen und reichen Teil der Menschheit, auszusöhnen die Nationen und die Völker der Erde durch Vervollkommnung, Veredlung, durch Liebe und Freiheit aller“.

Noch deutlicher als in diesem Aufruf an seine Standesgenossen, sprach Ronge seine letzte Absicht seinen Mitbürgern gegenüber aus, indem er sie unter Hinweis auf die ihnen gegebene Vernunft aufforderte: „Wohlan, sagen wir uns los von der römischen Kirche, vom Papst, und bilden wir eine deutschkatholische Kirche“.

Diese Aufforderung traf die Breslauer Bürgerschaft nicht unvorbereitet; die Rationalisten waren auch in Breslau nicht müßig gewesen, so dass eine nicht unbedeutende Empfänglichkeit für die beabsichtigte Reform vorhanden war. Der Professor des Kirchenrechts an der Breslauer Universität, Dr. Regenbrecht, und einer der deutschen Freiheitskämpfer, der Maler Professor Höcker, waren die ersten, welche, nicht zufrieden, dass man Ronge nur durch Dankadressen, Pokale, Becher und goldene Denkmünzen ehre, an seine Seite traten und zur Sammlung um Ronge als Hirt und Seelsorger aufforderten. Die Aufforderung
hatte Erfolg.

In vier aufeinander folgenden Versammlungen zwischen dem 22. Januar und 9. Februar 1845 erfolgte die Gründung der Gemeinde, die sich unterm 16. Februar 1845 auf die 24 Artikel umfassende „Grundsätze der Glaubenslehre, des Gottesdienstes und der Verfassung der allgemeinen (christlichen) Gemeinde zu Breslau“ einigte.

Am 9. März 1845 feierte die Gemeinde bei einem Mitgliederstand von 2000 ihren ersten Gottesdienst in der vom Magistrat zur Verfügung gestellten Armenhauskirche.
Bis zum Osterfest desselben Jahres zählte die Gemeinde bereits 7000 Seelen. Dem von Ronge geleiteten ersten Gottesdienste wohnten zwei ebenfalls exkommunizierte Geistliche an, Johannes Czerski, welcher unabhängig von Ronge nach vorausgegangenem Konflikt mit seiner christlichen Oberbehörde, dem Generalkonsistorium zu Posen, am 19. Oktober 1844 eine „christlich-apostolisch-katholische Gemeinde“ mit Unterstützung des Stadtkämmerers Sänger zu Schneidemühl gegründet hatte, und Karl Kerbler, der unterm 5. März 1845 seinen Austritt aus der katholischen Kirche erklärt und seine Kaplanei verlassen hatte.

Diesen ersten Zutritten aus den Reihen der Geistlichen folgten bald andere, unter ihnen am 5. April 1845 die des protestantischen Predigers Hofferichter und des protestantischen Kandidaten Vogtherr. Die Möglichkeit für eine
ersprießliche Tätigkeit mehrerer Prediger war sogleich
gegeben, da dem Beispiele Breslaus zahlreiche andere Städte folgten und die deutschkatholischen Gemeinden nach Jahresfrist bereits über hundert zählten.

Wir führen nur an:

Aus dem Jahr 1845 die Gemeinde Worms (6. März),
Wiesbaden (8. März), Offenbach (9. März), Stuttgart
(9. März), Ulm (25. März), Frankfurt a.M. (5. April), Hanau (22. Mai), Wörrstadt (15. Juni), Heidelberg (28. Juni), Mannheim (16. August), Pforzheim (2. Oktober), Osthofen (22. November);

aus dem Jahr 1846: Rüdesheim (14. Januar), Frankenthal (1. Mai);

aus dem Jahr 1847: Mainz (27. Februar);

ferner Ober-Ingelheim (1.Januar 1851),  Krofdorf (8. April 1861), Essenheim (14. Oktober 1861).

Die so überaus rasche Verbreitung des Deutschkatholi-zismus war mit bedingt durch die mehreren Rundreisen, welche Ronge teils allein, teils von anderen begleitet, in der Folgezeit durch ganz Deutschland unternahm, und die wahren Triumphzügen glichen.

Dem so üppig emporrankenden Deutschkatholizismus ein festes Fundament zu geben, schritt man gar bald zur Festsetzung dessen, was in den deutschkatholischen Gemeinden gelehrt werden sollte. Auf Einladung der von Robert Blum begründeten Gemeinde zu Leipzig versammelten sich in den Ostertagen des Jahres 1845 die Vertreter der inzwischen entstandenen Gemeinden vom 23. bis 26. März zu Leipzig zu dem ersten deutschkatholischen Konzil unter Vorsitz des Professors Wigard von Dresden. Das Konzil hatte dem Wunsche der Versammelten entsprechend den Charakter eines Laienkonzils, woran auch die Anwesenheit dreier Geistlicher (Ronge, Czerski, Kerbler) nicht ändern sollte.

Das Ergebnis der Beratungen des Konzils war die einmü-tige Annahme des „Leipziger Glaubensbekenntnisses“ oder der „Allgemeinen Grundsätze und Bestimmungen der deutschkatholischen Kirche“.

 

 

Allgemeine Grundsätze und Bestimmungen

der deutschkatholischen Kirche

 

wie sie bei dem ersten Konzil an dem Osterfeste 1845
beraten und angenommen wurden

 

I. Bestimmungen über die Glaubenslehre

 

1.         Die Grundlage des christlichen Glaubens soll einzig und allein die Heilige Schrift sein, deren Auffassungen und Auslegung der von der christlichen Idee durchdrungenen und bewegten Vernunft freigegeben ist.

2.         Als allgemeinen Inhalt unserer Glaubenslehre stellen wir folgendes Symbol auf: „Ich glaube an Gott den
Vater, der durch sein allmächtiges Wort die Welt
geschaffen, und sie in Weisheit, Gerechtigkeit und Liebe regiert. Ich glaube an Jesum Christum, unseren Heiland. Ich glaube an den Heiligen Geist, eine heilige allgemeine christliche Kirche, Vergebung der Sünden und an ein ewiges Leben. Amen.

3.         Wir verwerfen das Primat des Papstes, sagen uns von der Hierarchie los und verwerfen im Voraus alle Konzessionen, welche möglicherweise von der Hierarchie gemacht werden könnten, um die freie Kirche wieder unter ihr Joch zu beugen.

4.         Wir verwerfen die Ohrenbeichte.

5.         Wir verwerfen das Zölibat (erzwungene Ehelosigkeit.)

6.         Wir verwerfen die Anrufung der Heiligen, die Ver-ehrung von Reliquien und Bildern.

7.         Wir verwerfen die Ablässe, gebotenes Fasten, Wallfahrten und alle solche bisher bestehenden kirchlichen Einrichtungen, welche nur zu einer gesinnungslosen Werksheiligkeit führen können.

8.         Wir stellen der Kirche und den Einzelnen die Aufgabe, den Inhalt unserer Glaubenslehre zur lebendigen, dem Zeitbewusstsein entsprechenden Erkenntnis zu bringen.

9.         Wir gestatten aber völlige Gewissensfreiheit, freie Forschung und Auslegung der Heiligen Schrift, durch keine äußere Autorität beschränkt, verabscheuen vielmehr allen Zwang, alle Heuchelei und alle Lüge, daher wir in der Verschiedenheit der Auffassung und Auslegung des Inhaltes unserer Glaubenslehren keinen Grund zur Absonderung oder Verdammung finden.

10.     Wir erkennen nur zwei Sakramente an: die Taufe und das Abendmahl, ohne jedoch die einzelnen Gemeinden in der Beibehaltung christlicher Gebräuche
beschränken zu wollen.

11.     Die Taufe soll an Kindern, mit Vorbehalt der Bestätigung des Glaubensbekenntnisses bei erlangter Verstandesreife vollzogen werden.

12.     Das Abendmahl wird von der Gemeinde, wie es von Christus eingesetzt worden ist, unter beiden Gestalten empfangen.

13.     Wir erkennen die Ehe für eine heilig zu haltende Einrichtung an und behalten die kirchliche Einsegnung derselben bei; auch erkennen wir keine anderen
Bedingungen und Beschränkungen derselben an, als die von den Staatsgesetzen gegebenen.

14.     Wir glauben und bekennen, dass es die erste Pflicht des Christen sei, den Glauben durch Werke christlicher Liebe zu betätigen.

 

 

II. Bestimmungen über die äußere Form des
Gottesdienstes und über die Seelsorge

15.     Der Gottesdienst besteht wesentlich aus Belehrung und Erbauung. Die äußere Form des Gottesdienstes überhaupt soll sich stets nach den Bedürfnissen der Zeit und des Ortes richten.

16.     Die Liturgie insbesondere aber der Teil des Gottesdienstes, der zur Erbauung dienen soll, wird nach der Einrichtung der Apostel und der ersten Christen, den jetzigen Zeitbedürfnissen gemäß, geordnet. Die Teilnahme der Gemeindemitglieder und die Wechsel-wirkung zwischen ihnen und den Geistlichen wird als wesentliches Erfordernis angesehen.

17.     Der Gebrauch der lateinischen Sprache beim Gottesdienste soll abgeschafft werden.

18.     Der kirchliche Gottesdienst besteht in folgenden
Stücken:

a)             Anfang: Im Namen Gottes des Vaters, des
Sohnes und des Heiligen Geistes.

b)             Einleitendes Lied.

c)             Sündenbekenntnis (Confiteor).

d)             „Herr, erbarme dich unser“ (Kyrie).

e)             „Ehre sei Gott in der Höhe“ (Gloria).

f)               Die Gebetkollekten.

g)             Epistel.

h)             Evangelium.

i)               Die Predigt nebst den üblichen Gebeten
      (vor und nach der Predigt ein Gesangs-

Vers).

j)               Glaubensbekenntnis (Credo).

k)             Der Hymnos  „Heilig, heilig“ (Sanctus).

NB. Diejenigen Gemeindemitglieder, welche das Abendmahl zu nehmen gedenken,

nähern sich während diesem dem Altar.

l)               Statt des Kanons ein ausgewähltes Stück aus der Passion mit den Einsetzungsworten des heiligen Abendmahls, gesprochen vom Geistlichen.

m)          Während der Kommunion der Gemeinde:
 „ O Lamm Gottes“ (Agnus Dei)".

n)             Das Gebet des Herrn.

o)             Schlussgesang.

p)             Segen.

Es soll die Vokal- und Instrumentalmusik zwar nicht ausgeschlossen, jedoch ihre Anwendung beschränkt, und nur insoweit zulässig sein, als sie wirklich zur Andacht und
Gemütserhebung sich eignet.

19.    Außer dem feierlichen Gottesdienste finden des Nachmittags Katechisationen oder erbauliche Vorträge statt. Letztere können auch von einem Laien, nach vorheriger Genehmigung des Gemeindevorstandes, gehalten werden.

20.     Nur die Feiertage sollen gefeiert werden, welche nach den Landesgesetzen bestehen.

21.     Alle kirchlichen Handlungen, wie Taufen, Trauungen, Begräbnisse usw. sollen von dem Geistlichen ohne Stolagebühren für alle Glieder der Gemeinde gleich verrichtet werden.

22.     Die Stellung und überhaupt äußere Haltung in der Kirche, als der Ausdruck der inneren religiösen
Ansichten und Gefühle, soll jedem überlassen sein, nur wird untersagt, was zum Aberglauben führt.

23.     Niemand hat einen Anspruch auf einen bestimmten Platz in der Kirche; daher dürfen keine bestimmten Kirchenplätze weder zu einem besonderen Gottesdienst, noch überhaupt an Einzelne und zwar gegen Entgelt noch unentgeltlich überlassen werden.

 


 

III.               Bestimmungen über das Gemeindewesen und die Gemeindeverfassung

24.    Die Gemeinde fasst als die Hauptaufgabe des Christentums auf, dasselbe nicht bloß durch öffentlichen Gottesdienst, Belehrung und Unterricht in den
Gemeindegliedern zu lebendigem Bewusstsein zu bringen, sondern auch in tätiger Christenliebe das geistige, sittliche und materielle Wohl ihrer Mitmenschen ohne Unterschied nach allen Kräften zu befördern.

25.     Die Gemeindeverfassung schließt sich den Einrichtungen der Apostel und ersten Christen (Presbyterialverfassung) an, kann jedoch abgeändert werden, wenn die Zeitbedürfnisse es erfordern.

26.     Die Aufnahme in die Gemeinde findet nach erfolgter Willenserklärung des Beitritts und Ablegung des von der Gemeinde angenommenen Glaubensbekenntnisses statt.

27.     Wer von einer nicht christlichen Religionsgesellschaft in die Gemeinde eintreten will, muss erst den erforderlichen Religionsunterricht erhalten, bevor er nach
Ablegung des Glaubensbekenntnisses die Taufe empfängt.

28.     Die Gemeinde gebraucht ihr altes Recht, sich ihre Geistlichen und ihren Vorstand frei zu wählen. Wahlfähig zum Amte eines Geistlichen sind nur Theologen, die sich durch Zeugnisse über ihre Kenntnisse und ihren Lebenswandel ausweisen können.

29.     Jeder Geistliche wird in sein Amt durch einen feier-lichen Akt eingeführt.

30.     Die Anstellung eines Geistlichen in einer Gemeinde ist unwiderruflich, und es gelten hinsichtlich dessen
Absetzbarkeit nur die in einem Lande bestehenden gesetzlichen Bestimmungen. Über Absetzungsgründe, die nicht in den Bereich des Gesetzes fallen, kann nur von den einzurichtenden Provinzalsynoden entschieden werden.

31.     Die Gemeinde wird vertreten durch die Geistlichen und die gewählten Ältesten. Die Wahl der Ältesten geschieht in der Regel alljährlich am Pfingstfeste.

32.     Der oder die Geistlichen haben die Verwaltung der geistlichen Verrichtungen, die Ältesten mit dem aus
ihrer Mitte auf ein Jahr von ihnen selbst gewählten Vorstande, die Verwaltung aller übrigen Gemeinde-angelegenheiten über sich. Es ist jedoch der Geistliche Mitglied des Kollegiums der Ältesten.

33.     Bei Versammlungen der Gemeinde gebührt dem oder den Seelsorgern der Ehrenplatz zur Seite des
Vorstandes der Gemeinde, welcher der aus der Mitte der Ältesten (siehe Bestimmung 32) gewählte
Vorstand ist. Die Verhandlungen der Gemeinde aber eröffnet, leitet und schließt dieser Gemeindevorstand in allen Angelegenheiten, auch die nicht ausgenommen, welche das Glaubensbekenntnis, den Gottesdienst und die Seelsorge betreffen, und es hat jeder Geistliche seine Stimme zuletzt abzugeben. Es steht aber demselben in allen geistlichen Angelegenheiten das erste und letzte Wort zu.

34.     Die Gemeinde wird in ihrer festzustellenden Verfassung die Rechte und Pflichten bestimmen, welche sie den Geistlichen und ihrem Vorstande überträgt, sowie diejenigen, welche sie sich vorbehält.

35.     Die Gemeinde hält sich für berechtigt und befugt, selbständig und allein, je nach dem Zeitbewusstsein und den Fortschritten in Erkenntnis der Heiligen Schrift, alle diese Bestimmungen abzuändern; sie
verpflichtet sich aber der Einheit willen freiwillig, diese Abänderungen der nächsten allgemeinen Kirchenversammlung anzuzeigen, und eine Entscheidung darüber zu beantragen.


IV.               Bestimmungen über die allgemeinen

     Kirchenversammlungen (Konzilien)

36.    Die allgemeinen Kirchenversammlungen (Konzilien) sollen die Einheit des kirchlichen Lebens bezwecken, soweit diese Einheit die Gewissensfreiheit des Einzelnen in der Gemeinde und der Gemeinde selbst nicht beschränkt.

37.     Die allgemeine Kirchenversammlung soll aus den
 Abgeordneten der einzelnen deutsch-katholischen Gemeinden bestehen, bei deren Wahl die Gemeinden unbeschränkt sind.

38.     Es soll jeder Gemeinde freistehen, so viele Abgeordnete zu senden, als sie für gut befindet, es haben aber sämtliche Abgeordnete einer Gemeinde bei
Beschlussfassung nur eine Stimme zusammen.

39.     Als eine allgemeine Kirchenversammlung soll nur
diejenige angesehen werden, bei welcher die Mehrzahl der konstituierten Gemeinden in Deutschland
vertreten sind. Es kann jedoch ein Abgeordneter
mehrere Gemeinden vertreten.

40.     Die Zahl der stimmfähigen Abgeordneten einer
Kirchenversammlung soll wenigstens aus zwei Dritteln Laien bestehen, und nur ein Drittel kann dem geistlichen Stande angehören.

41.     Die Beschlüsse der allgemeinen Kirchenversammlung sind als Vorschläge zu betrachten und erlangen nur dann allgemeine Gültigkeit, wenn sie den sämtlichen einzelnen Gemeinden Deutschlands zur Beratung und Beschlussfassung vorgelegt worden sind, und wenn die Mehrzahl dieser Gemeinden sie angenommen hat.

42.     Die von sämtlichen einzelnen Gemeinden über
Annahme oder Nichtannahme der Beschlüsse der
allgemeinen Kirchenversammlung abzugebende
Erklärung ist jederzeit in einer Frist von drei Monaten dem in der Bestimmung 48 genannten Ortsgemeindevorstand einzusenden, widrigenfalls eine solche Erklärung bei der Bestimmung hinsichtlich der erlangten Annahme oder Verwerfung eines Beschlusses der
allgemeinen Kirchenversammlung nicht in Betracht kommen kann.

43.     In der Regel soll alle fünf Jahre eine allgemeine
Kirchenversammlung gehalten werden, es können
jedoch dermalen und bis zur gänzlichen Feststellung aller Verhältnisse der deutsch-katholischen Gemeinden öftere Versammlungen stattfinden.

 

44.     Die Dauer einer jeden allgemeinen Kirchenversammlung richtet sich nach der Menge und der Wichtigkeit der vorliegenden Beratungsgegenstände.

45.     Der Ort, wo die allgemeine Kirchenversammlung
abzuhalten ist, soll wechseln, und dabei auf Ost- und West-, Süd- und Norddeutschland gleich Rücksicht genommen werden, soweit es die Verhältnisse gestatten.

46.     Jede allgemeine Kirchenversammlung beschließt
daher in einer ihrer ersten Sitzungen, an welchem
Orte die nächste Kirchenversammlung gehalten werden soll.

47.     Zur formalen Einheit sollen die beiden Gemeinde-vorstände desjenigen Ortes, woselbst die letzte und die nächste Kirchenversammlung abgehalten worden ist und wird, die Vereinigung in folgender Weise
bewirken.

48.     Der Gemeindevorstand desjenigen Ortes, wo die nächste Kirchenversammlung stattfindet, erlässt die Einladung zu derselben in den öffentlichen Blättern und nach Befinden durch eigene Zirkulare an die
einzelnen Gemeinden, eröffnet die allgemeine
Kirchenversammlung, nach deren Konstituierung er die Akten und sonstige Gegenstände an den erwählten Vorstand (siehe Bestimmung 49) übergibt, und übernimmt sämtliche Akten und Gegenstände wieder aus dessen Händen nach dem Schluss der Kirchenversammlung.

Hierauf hat er die von den einzelnen Gemeinden an ihn zu übersendende Erklärung (siehe Bestimmungen 41 und 42) anzunehmen und das Resultat derselben nach Verlauf der festgesetzten Frist (siehe Bestimmung 42) mit Angabe der bejahenden oder verneinenden Abstimmung einer jeden Gemeinde und derjenigen, welche eine Erklärung abzugeben unterlassen haben, öffentlich bekannt zu machen, womit seine Wirksamkeit erlischt.

Er übersendet sodann alle auf die allgemeinen
Kirchenversammlungen Bezug habenden Akten, Schriften und sonstige Gegenstände an den Gemeindevorstand desjenigen Ortes, woselbst die nächste Kirchenversammlung stattfindet. Dieser verfährt nun in gleicher Weise, wie angegeben worden ist.

49.    Die erste Handlung nach Eröffnung einer jeden
Kirchenversammlung muss die Wahl eines Vorstandes mittels Stimmzettel sein.

50.     Die Sitzungen der allgemeinen Kirchenversammlung sind öffentlich, und ihre Verhandlungen sollen so ausführlich als möglich gedruckt werden.

51.     Alle diese Bestimmungen sind jedoch nicht und sollen nicht für alle Zeiten festgesetzt sein und werden, sondern können und müssen nach dem jedesmaligen Zeitbewusstsein von der Kirchengemeinde abgeändert werden.

 

 


 


Die protestantischen Freunde

und die freien Gemeinden

Die seit Aufhebung des Wöllnerschen Religionsediktes [2] ununterbrochen fortgesetzten Kämpfe zwischen Rationalismus und Orthodoxie sollten endlich eine greifbare und sichtbare Wirkung auch im Protestantismus haben.

Im Frühling des Jahres 1841 ließ der Prediger eines kleinen Örtchens, Pömmelte in der Provinz Sachsen, Leberecht Uhlich, ein Schreiben an seine Amtsgenossen ergehen, des Inhalts, sie möchten als Geistliche sich mit ihm zur Verteidigung des Geistes und der Wahrheit
gegenüber dem Buchstaben und der kirchlichen Satzung vereinigen. Das Schreiben hatte Erfolg. Am 29. Juni 1841 fanden sich 16 Gleichstehende, Prediger und
Theologen, zusammen, um über ein gemeinsames
Vorgehen zu beraten. Die zunächst hier nur allgemein festgestellten Voraussetzungen für dieses gemeinschaftliche Vorgehen fanden auf einer weiteren Versammlung dieser „Protestantischen Freunde“ zu Halle, am 20. September 1841, nachstehend bestimmte Fassung:

1.        Wir wollen uns in unserem Glauben durch Gemeinschaft stärken und weiterbilden.

2.    Unser Glaube ist das einfache evangelische Christentum. Seine Grundzüge sind ausgesprochen in den Worten Jesu, Joh. 17.3: „Das aber ist  das ewige
Leben, dass sie dich, dass du allein wahrer Gott bist, und, den du gesandt hast, Jesum Christum, erkennen.“

3.        Wir erklären es für unser Recht und für unsere Pflicht, alles, was sich uns als Religion darbietet, mit unserer Vernunft zu prüfen, aufzunehmen, zu verarbeiten.

4.        Wir erkennen, dass von den Aposteln an stets eine verschiedene Auffassung des Christentums stattgefunden hat, und dass dies nach der Verschiedenheit der menschlichen Geister nicht anders sein kann, also Gottes Wille ist. Somit achten wir es für unsere Pflicht, jede Richtung, sofern dabei redlich zu Werke gegangen wird, zu ehren als in ihrem Recht befindlich. Verketzern wollen wir nie!

5.         Dass das Christentum bestehe und seinen Segen bringe, dazu erachten wir für völlig ausreichend dreierlei:

seine Göttlichkeit,

des menschlichen Gemütes ewige

Bedürfnisse    und

geistige Freiheit.

(Sonstige Stützen braucht das Christentum nicht und will es nicht. Einen Leib (Kirche) wird es sich schon bilden nach dem jedesmaligen Bedürfnisse.) [3]

6.         Als unsere erste, aber wichtigste Aufgabe erkennen wir an, uns in Amt und Leben rein und treu zu beweisen. Das versprechen wir einander, wie wir es ja längst Gott versprochen haben müssen. Wer nicht Wort hält, gehört uns nicht mehr an.

7.         Dabei wollen wir einander treue Handreichungen tun in Rat und Tat, damit wir im Amt und Leben das Rechte treffen.

8.         Auch um uns her wollen wir, soviel uns vergönnt ist, wirken für das Reich Jesu durch Wort und Schrift.

9.         Wir freuen uns in dem Bewusstsein, dass wir mit unserem Glauben und Streben stehen auf der Grundlage der protestantischen Kirche, welcher Grund nach innen Christus (1. Kor. 3. 11), nach
außen Verwahrung gegen jede Bevormundung [ist] (Gal. 5,1.) Wir nennen uns darum „Protestantische Freunde“.

 

In einer Reihe erneuter Zusammenkünfte (Pfingsten 1842 zu Leipzig, 27. September 1842 zu Köthen, Pfingsten 1843 zu Köthen, 26. September 1843 zu Köthen), die sich stets einer wachsenden Zahl von Teilnehmern aus Theologen- und Laienkreisen erfreuten, und ein durch kirchliche Repressalien angestacheltes reges
Interesse bekundeten, klärten sich die Anschauungen der Protestantischen Freunde weiter, ohne indessen völlige Klarheit über ihre letzte Absichten zu erbringen.

Da kam es 1844 in der Pfingstversammlung zu
Köthen
zu einer Entscheidung. Gustav Adolf Wislicenus, Prediger an der Neumarktkirche zu Halle, forderte zur Konsequenz auf.

Der Kampf gelte nicht allein den kirchlichen Formeln vergangener Jahrhunderte, sondern den Prinzipien der Kirche selbst, vor allem jenem Prinzip von der allgemeinen Autorität der Bibel; diese sei zu verwerfen. Nicht die so genannte Heilige Schrift sei uns Autorität in Glaubenssachen, vielmehr der uns selbst innewohnende
lebendige Geist der Wahrheit.

Auf einer weiteren achten Versammlung am 24. September, welche vergeblich zwischen der vorsichtigen alten Richtung und den durch Wislicenus geleiteten entschiedenen „Hallensern“ zu vermitteln suchte, erreichte die Bewegung ihren Höhepunkt auf der von mehr denn 2000 Teilnehmern des In- und Auslandes besuchten neunten Versammlung zu Köthen am 15. Mai 1845.

Sie stand unter dem Eindruck der bereits vorbereiteten Maßregelung des Predigers G. A. Wislicenus, den die Versammlung als einen der Ihrigen feierte, und darauf einstimmig beschloss, „für das Recht der freien Entwicklung des protestantischen Christentums fort und fort zu zeugen und zu wirken“.

Eine dahin gehende Erklärung fand die Unterschrift von etwa fünfzig Geistlichen und zahlreichen Laien.

Diese Vorgänge in Sachsen wiederholten sich in den verschiedensten Gegenden Deutschlands, so dass
Versammlungen der Protestantischen Freunde, oder wie die Gegner sie spottweise nannten, der „Lichtfreunde“, damals eine häufig wiederkehrende Erscheinung waren.

Man kann sich denken, dass die Kirche dem Unterfangen der Protestantischen Freunde nicht gleichgültig
zusah. Dieselben sollten bald erfahren, dass die Kirche durchaus nicht geneigt war, auf die von ihnen beabsichtigten Reformen einzugehen. Verschiedene Erlasse der einzelnen Landeskirchen verboten die Teilnahme an den öffentlichen und geheimen Versammlungen der Lichtfreunde, und es zeigte sich gar bald, dass unter den Tausenden, die auf den Versammlungen für die religiöse Freiheit mit Worten geschwärmt hatten, nur verhältnismäßig sehr wenige waren, die den Mut fanden, ihre Worte durch Taten zu bekräftigen, d. h. lieber Amt und Brot zu verlieren, als ihrer Überzeugung untreu zu werden.

Es galt zu wählen, zwischen einer aller Reform und
allem Fortschritt abholden protestantischen Kirche und der nur außerhalb der Kirche zu ermöglichenden freien Überzeugung.

Vergebens, dass sich weite bürgerliche Kreise und
Behörden für die Protestantischen Freunde verwandten, die Ablehnung seitens der Kirche und der Regierungen blieb aufrecht erhalten. So war der Bruch mit der Kirche unvermeidlich geworden.

Den Ruhm, den Mut gehabt zu haben, ihn zu vollziehen, verdienten sich unter tatkräftiger Unterstützung eines Teils ihrer Gemeindemitglieder vor allem die Prediger Gustav Adolf Wislicenus, Dr. Julius Rupp, Eduard Baltzer, Karl Eduard Herrendörfer, Adolf Thimotheus Wislicenus, Leberecht Uhlich.

Unter ihrer Führung entstanden die ersten freien
Gemeinden zu Halle (26. September 1845), Königsberg (16. Dezember 1845), Nordhausen (5. Januar 1847), Neumarkt in Schlesien (24. Januar 1847), Halberstadt (9. Juni 1847), Magdeburg (29. November 1847).

Diesen ersten Gemeinden reihten sich bald andere an, alle miteinander getragen von der Liebe zur Wahrheit der religiösen Überzeugung.

 

Der Bund der freireligiösen Gemeinden Deutschlands

Die reformatorische Doppelbewegung der vierziger
Jahre des 19. Jahrhunderts hatte ihre sichtbare Wirkung gefunden in den deutschkatholischen Gemeinden einerseits, in den freireligiösen Gemeinden andererseits.
Aus dem Kampfe heraus geboren, waren sie in allererster Reihe Kampfgemeinden. Mit Aufbietung aller ihrer Kräfte hatten sie sich für ihre Existenz zu wehren, und Staat und Kirche ließen es ihnen wahrhaftig nicht leicht werden.

Unter den zahlreichen damals entstandenen Gemeinden waren nicht wenige dem auf ihnen lastenden Druck nicht gewachsen; manche kundgewordene Begeisterung für religiöse Freiheit erwies sich als Strohfeuer-Begeisterung, und manches glänzende Gold des Freimuts bestand nicht die Läuterung im Feuer der
Bedrängnis. Diese Bedrängnis seitens der kirchlichen und weltlichen Mächte ward umso stärker, als die politischen Wirren der vierziger Jahre den machthabenden Gewalten die gern benutzte Gelegenheit boten, die neuen, kirchlich unabhängigen Gemeinden auch als politisch verdächtig, ihre Bestrebungen als revolutionär zu
bezeichnen, während sie doch lediglich religiöse
Reformgemeinden waren, die für die politischen Neigungen Einzelner ihrer Anhänger nicht hätten verantwortlich gemacht werden dürfen.

Was von den damals entstandenen Gemeinden über die Zeit der Revolution und der ihr folgenden Reaktion
hinaus seine Existenz zu wahren vermochte, das widmete sich nur um so inniger der inneren Läuterung und
Festigung in den Grundsätzen der religiösen Freiheit und des religiösen Fortschritts. Eine ganze Reihe von deutsch-katholischen Konzilen und Konferenzen diente der gemeinsamen Sammlung und Erstarkung, und es kann nicht geleugnet werden, dass der auf den Gemeinden lastende Druck redlich dabei mitgeholfen hat.

Da endlich, im Mai 1859, erließ der Provinzialvorstand der schlesischen Gemeinden an sämtliche deutsch-katholischen sowie alle frei-evangelischen und freien Religionsgemeinden eine Einladung zu einem allgemeinen Konzil nach Gotha auf den 16. Juni 1859, und dies in der ausgesprochenen Absicht, die lang ersehnte Union zu verwirklichen.

 

 

 

 

 


Zitat aus „Die Freireligiöse Bewegung - Wesen und Auftrag“, Mainz, 1959 herausgegeben als Gemeinschaftsarbeit des Bundes Freireligiöser Gemeinden Deutschlands

„... Da das Königreich Sachsen seinen deutsch-katholischen Gemeinden die Fühlungnahme mit
außersächsischen Gruppen verbot, wurde Gotha in Thüringen, dem grünen Herzen Deutschlands, zum Tagungsort bestimmt. Die Wahl ist insofern interessant, weil sich dort die deutsche Genossenschaftsbewegung zusammenfand, dort 1875 der Einheitsparteitag der Deutschen Sozialdemokratie zusammentrat und seit 1878 die erste Feuerbestattungen durchgeführt wurde.

Nun tagte im Gotha am 16. und 17. Juni 1859 der erste Kongress der Freireligiösen Gemeinden Deutschlands, dessen stenografischer Bericht von L. Uhlich noch vorhanden ist.

54 Gemeinden hatten ihre Vertreter entsandt, darunter 21 Angestellte, Prediger und Lehrer, 14 Handwerksmeister, 4 Fabrikanten und Kaufleute, je 3
Beamte und Rechtsanwälte. Man sprach sich in brüderlichem Geiste über alle religiösen Fragen aus, konnte aber trotz äußerer Einheit keine innere Festigkeit beweisen ...“

 

52 [54 ?[4]] Gemeinden folgten der Einladung. In ernster, anhaltender Beratung der erschienenen vollzog sich die Einigung sämtlicher Gemeinden zum „Bund freireligiöser Gemeinden“ mit Annahme folgender Verfassung:

 

Verfassung des Bundes freireligiöser

Gemeinden

1.    Name

Bund freireligiöser Gemeinden.

2.    Grundsatz

Freie Selbstbestimmung in allen religiösen Angelegenheiten.

3.    Zweck

Förderung unseres religiösen Lebens.

4.    Mitgliedschaft

Glied des Bundes ist jede Gemeinde, welche die Verfassung desselben anerkennt und ihren Beitritt beim Bundesvorstand angemeldet hat. - Wie der Eintritt, so
geschieht auch der Austritt aus dem Bunde durch eine auf Gemeindebeschluss gegründete, dem Bundesvorstand zugestellte Erklärung des Gemeindevorstands.

5.    Bundesversammlung

Jedes dritte Jahr wird eine Bundesversammlung gehalten, zu welcher der Bundesvorstand einladet, und für welche er die Vorlagen vorher bekannt macht.

6. Ordnung der Bundesver-

    sammlung

Jede Gemeinde, auch wenn sie durch mehrere Glieder vertreten ist, führt bei Abstimmung eine Stimme; wenn ein Abgeordneter mit Vollmacht mehrerer Gemeinden erscheint, so führt er auch nur eine Stimme.

Die Wahl der Abgeordneten zur Bundesversammlung erfolgt durch die Versammlung der Gemeinde; sie sind mit schriftlicher Vollmacht zu versehen.

Die Verhandlungen der Bundesversammlung sind öffentlich.

7. Außerordentliche Versamm-

    lungen

Außerordentliche Bundesversammlungen sind auf Verlangen der Mehrheit der Bundesgemeinden durch den Bundesvorstand zu berufen.

8. Beschlüsse

Die Beschlüsse der Bundesversammlung sind Ratschläge für die Bundesgemeinden. Diejenigen Beschlüsse jedoch, welche die Verfassung des Bunds selbst betreffen, sind für alle Gemeinden bindend.

9. Bundesvorstand

Der Bund wählt für die Zeit von einer ordentlichen Bundesversammlung bis zur anderen einen Bundesvorstand. Derselbe soll

1.    die allgemeinen Angelegenheiten des Bundes leiten;

2.    die Gemeinden und Einzelnen innerhalb unserer Zwecke zu jeder Vermittlung, um welche er angesprochen wird, bereit stehen;

3.    mit Benutzung des ihm aus den Gemeinden zugehenden Stoffes die nächste Bundesversammlung vorbereiten;

4.    das Vermögen des Bundes verwalten.

10. Der Bundesvorstand

ist dem Bunde verantwortlich und verpflichtet, alljährlich am Schluss des Kalenderjahres den Gemeinden einen Rechenschaftsbericht zu erstatten. Er besteht aus fünf von der Bundesversammlung zu wählenden Personen. Für Todes- oder Verhinderungsfälle wählt die Bundesversammlung drei Ersatzmänner, welche nach der durch die Zahl ihrer Stimmen festgestellten Reihenfolge in den Bundesvorstand eintreten.

11. Bundeskasse

Zur Bestreitung notwendiger Ausgaben zu Bundeszwecken wird von den Gemeinden eine Bundeskasse durch freiwillige am Schlusse jedes Kalenderjahres einzusendende Beiträge gebildet. Der Bundesvorstand verwaltet dieselbe, gibt im Rechenschaftsbericht Auskunft über sie, und legt der Bundesversammlung Rechnung darüber ab. - Gemeinden, die aus dem Bunde scheiden,
haben auf das Vermögen des Bundes keinen Anspruch.

Die weitere Organisation und Verfassung der

freireligiösen Gemeinden

Der leitende Grundsatz der freien Selbstbestimmung in allen religiösen Angelegenheiten bedingt es, dass, wie in Bezug auf die Lehre, so auch bezüglich der Organisation innerhalb der freireligiösen Bewegung Zwang nicht ausgeübt wird, dass also vor allem die Zugehörigkeit zum Bunde lediglich aus freier Entschließung der einzelnen Gemeinden beruht, und jederzeit mit Nichtzugehörigkeit vertauscht werden kann: Es ist doch einem Teil der freireligiösen Gemeinden, nämlich den sächsischen überhaupt verwehrt, sich dem Bunde anzuschließen.

Auch bezüglich der Namengebung für die einzelnen Gemeinden besteht keinerlei bestimmte Verpflichtung; sind doch einzelne Gemeinden mit Rücksicht auf ihre staatlichen Rechte geradezu verhindert, sich freireligiös zu nennen. Die Bezeichnung „ freireligiös“ dient mehr zur Kennzeichnung der allen Gemeinden eigentümlichen Bestrebungen, als zur besonderen Bezeichnung einer bestimmten Gemeinde. Und diese Bezeichnung „freireligiös“ bedarf einer Erklärung, um sie vor missverständlichen Auffassungen zu bewahren. „Freireligiös“ ist mit Wortbildungen wie freigiebig, freiwillig, freisinnig auf eine Stufe zu stellen. Wie diese „frei im Geben“, „frei in seinen Willensentschließungen“, frei in der Gesinnung“ bedeuten, so freireligiös „frei in der Religion“, nicht aber frei von Religion, was gleichbedeutend mit religionslos wäre.

Religiöse Gemeinden wollen die freireligiösen Gemeinden sein, Religion ist ihr Element, aber Religion unter voller Wahrung der persönlichen Freiheit jedes Einzelnen in Bezug auf Lehre und Kultus.

Innerhalb des Bundes, der keine Oberbehörde darstellt, sondern lediglich eine freie Vereinigung behufs Verfolgung gemeinsamer Zwecke ist, haben sich aus räumlich näher beieinander liegenden Gemeinden besondere Verbände gebildet, wie der südwestdeutsche, der
ostpreußische und schlesische, sie sind begründet auf
besondere Verfassungen, haben ihre eigene Organisa-tion, und dienen dem gemeinschaftlichen Interesse im eigenen Kreise durch Abhaltung alljährlicher Verbandstage.

Die auf diesen Verbandstagen jeweils zu leistende Arbeit bezieht sich auf die Gemeindestatistik, die freireligiöse Propaganda, die Unterrichtsangelegenheit, das Predigeramt, die Fürsorge für die Prediger, deren Witwen und Waisen, und die Förderung des Gemeindelebens im Allgemeinen. Auch die Verbände sind gegenüber den Einzelgemeinden keine vorgesetzten Verbände, und ihre Beschlüsse haben nur, soweit sie geschäftlicher Natur sind, für die einzelnen Verbandsgemeinden eine verpflichtende Bedeutung.

Jede Einzelgemeinde hat volle Selbständigkeit; die Ordnung in ihr ist durch eine besondere Verfassung gewährleistet; diese Verfassung entspricht derjenigen der christlichen Urgemeinden. Sie beruht auf Autonomie, d. h. Selbstverwaltung. Was in einer freireligiösen Gemeinde geschehen soll, bestimmt einzig und allein die Gemeinde; sie ist in ihren Entschließungen durch nichts gehemmt außer durch ihre eigene Verfassung, welche der Bestätigung seitens der Staatsbehörde bedarf. Irgend ein bestimmender Einfluss seitens einer Art freireligiöser Oberbehörde, wie sie die kirchlichen Gemeinschaften haben, existiert nicht.

Den einzelnen Staaten gegenüber sind die Rechte der freireligiösen Gemeinden gesetzlich geregelt; eine Übereinstimmung in der gesetzlichen Behandlung der freireligiösen Gemeinden seitens der Staatsregierungen
besteht nicht; während ein Teil von ihnen als Religionsgemeinschaften staatliche Anerkennung genießt, wird ein anderer Teil nur geduldet, oder genießt staatliche Anerkennung nur in der Eigenschaft eines nicht politischen Vereins.

Die Leitung der Einzelgemeinde liegt in den Händen eines Gemeindevorstandes; er ist das ausführende
Organ für alle Beschlüsse, welche die Gemeinde in der alljährlichen Generalversammlung nach Stimmenmehrheit jeweils gefasst hat. Zur Erleichterung der Verwaltung verteilt der Vorstand deren einzelne Zweige  (Schriftführung, Kassenwesen, Ökonomie, Bibliothekswesen, Oberleitung) unter seinen Mitgliedern.

Die Gemeindeverfassung gibt Auskunft über die Rechte und Pflichten jedes einzelnen Gemeindemitgliedes, über die Befugnisse des Vorstandes, des Predigers und der Gemeindeversammlung. Ohne sich auf die Gemeindeverfassung zu verpflichten, erhält niemand Aufnahme in die Gemeinde

Lehre und Gebrauchtum der freireligiösen
Gemeinden

Der leitende Grundsatz der ganzen freireligiösen Bewegung war von jeher Befreiung von religiöser Bevormundung, Erziehung zu religiöser Selbständigkeit.

Am striktesten ist dieser Gedanke zum Ausdruck
gekommen in jenem Paragraph 2 der Bundesverfassung vom Jahr 1859: „Freie Selbstbestimmung in allen religi-ösen Angelegenheiten“.

Diesem Grundsatz entsprechend kann von Aufstellung einer einheitlichen oder gar allgemein verpflichtenden freireligiösen Lehre keine Rede sein. Es gibt keine freireligiösen Dogmen oder Glaubenssätze. Ausgehend von der gewiss unanfechtbaren Tatsache, dass das Denken und Fühlen der Menschen eine unübersehbare Mannigfaltigkeit aufweist, strebt die freireligiöse Gemeinde
danach, dass jedem einzelnen Menschen eine seinem Denken und Fühlen entsprechende Überzeugung werde. Wie er über die großen religiösen Probleme denkt, das soll ihm nicht von irgend einer äußeren Autorität aufgezwungen, sondern aus der Welt der Gedanken und
Gefühle, in der er lebt, heraus geboren sein.

Der Unterschied zwischen Kirche und freireligiöser
Gemeinde auf dem Gebiete der Lehre ist nicht der, dass die letztere schlichtweg verneint, was die erstere bezüglich der religiösen Probleme lehrt; er besteht vielmehr darin, dass die freireligiöse Gemeinde - entgegen dem kirchlichen Glaubenszwang - es jedem Einzelnen freistellt, sich eine seinem Willen und Bildungsgrad entsprechende Überzeugung betreffs der religiösen Fragen zu
bilden, eine Überzeugung, die auch sein Gefühl zufriedenstellt.

Dementsprechend gibt auch der einzelne freireligiöse Prediger immer nur seine persönliche Überzeugung kund, die unter Umständen von der seines Berufskollegen recht erheblich abweichen kann.

Die freireligiöse Gemeinde bezeichnet es als zu Recht bestehend, was unter den Predigern der protestantischen Kirche, dem einheitlichen Glaubensbekenntnis zuwider, längst eine, wenn auch nur ungern gesehene Tatsache ist - die Meinungsverschiedenheit bezüglich religiöser Probleme.

Der Freireligiöse unterzieht seine religiöse Überzeugung ständig einer Überwachung beziehungsweise Korrektur gemäß seiner zunehmenden Erkenntnis. Stillschweigende Voraussetzung ist dabei, dass die religiöse Überzeugung sich aufbaue auf den Grundgesetzen des
Denkens, und dass sie sich mit der fortschreitenden
wissenschaftlichen Erkenntnis wie mit der geschicht-lichen Wahrheit in Übereinstimmung befinde.

Es ist immer der denkende Mensch, an welchen die
freireligiöse Gemeinde sich mit ihrer Lehre wendet.

Damit soll nicht gesagt werden, dass Logik und Wissenschaftlichkeit das Ausschlaggebende in der Beurteilung des religiösen Menschen sind. Das liegt ausschließlich bei der persönlichen Überzeugung des Einzelnen, die sich durch Taten zu legitimieren hat. Die Wertschätzung des religiösen Menschen ist bedingt nicht durch sein Sosein oder Andersdenken, sondern allein durch sein sittliches Handeln.

Wie es in den freireligiösen Gemeinden keine einheitlich festgestellte Lehre gibt, so auch kein einheitlich durch-geführtes Gebrauchtum. Das Recht der freien Selbstbestimmung in allen religiösen Angelegenheiten ermöglicht es der Gemeinde, bestimmte Gebräuche und Formen behufs Darstellung des religiösen Lebens einzuhalten, oder aber sie mehr oder minder abzulehnen; dasselbe Recht der freien Selbstbestimmung in allen religiösen Angelegenheiten gestattet es aber auch jedem einzelnen Gemeindemitglied, an den Gebräuchen und Formen seiner Gemeinde teilzunehmen oder nicht.

Als solche sind zu nennen:

1.  Die sonntäglichen Gemeindeversammlungen.

Sie bilden das Gegenstück zu den sonntäglichen
Gottesdiensten der Kirchengemeinschaften und
tragen einen erbaulichen Charakter; sie werden
darum vielfach als „Erbauungen“ bezeichnet. Als  Ort für die Abhaltung dieser sonntäglichen Gemeinde-versammlungen gilt die Gemeindehalle (Kirche) oder, wo ein eigener Saal nicht im Besitz einer solchen ist,
irgend ein geeigneter Saal.

Im Mittelpunkt solcher Gemeindeversammlungen steht die Predigt oder der Vortrag; um ihn gruppieren sich, je nach Wunsch und Möglichkeit, Gemeinde- oder Chorgesang nebst Musik in Gestalt von Orgel- oder Harmoniumspiel. An die Stelle des Gebets ist die Darbietung poetischer Gaben getreten, deren Inhalt sich entweder auf die allgemeine Bedeutung des
Tages bezieht oder dem Predigervortrag angepasst ist.

2.   Die Konfirmation oder Jugendweihe.

Sie bildet den alljährlichen Höhepunkt im freireligiösen Gemeindeleben und erfährt eine möglichst glanzvolle Ausstattung; sie fällt zeitlich zusammen mit der Entlassung der Kinder aus der Volksschule. Ihrem Wesen nach ist diese Feier Weihe der Jugend zu einem rechtschaffenen und gewissenhaften Lebenswandel. Eine Verpflichtung der Konfirmanden auf irgendwelche Glaubenslehren findet in keiner Weise statt.

3.   Neben diesen allgemein gebräuchlichen Formen der Darstellung religiösen Lebens finden sich in einer Reihe von Gemeinden noch die Taufe oder Kindesweihe, die Trauung oder Weihe des Ehebundes, das Abendmahl oder Bundesmahl zum Gedächtnis Jesu.

Diese Gebräuche innerhalb eines Teils der freireligiösen Gemeinden sind im Gegensatz zu den entsprechenden Bräuchen der Kirche frei von jedwedem sakramentalen Charakter; sie sind nichts anderes als eine feierliche ernste Würdigung vom Werte eines jeden einzelnen Menschenlebens im Allgemeinen und der sittlichen Bedeutung ehelichen Gemeinschaftslebens im Besonderen. Wo das Abendmahl in den Gemeinden noch gefeiert wird, geschieht es in Anlehnung an die Konfirmations-feier unter Verwendung von Brot und Wein; dem
Gedächtnis Jesu von Nazareth geweiht, soll diese Feier der Förderung menschenfreundlicher, brüderlicher
Gesinnung unter den Gemeindegliedern dienen.

Die Bestattung der Toten, es sei nun Erdbestattung oder Feuerbestattung, erfolgt jeweils in feierlicher Weise,
ohne dass dazu ein besonderes Zeremoniell eingehalten werden müsste. Die Durchführung des Gebrauchtums innerhalb der freireligiösen Gemeinden liegt in der Regel dem Prediger ob; doch ist, da die freireligiösen Gemeinden einen Unterschied zwischen Geistlichen und Laien nicht kennen, jedes einzelne Gemeindemitglied berechtigt, im Verhinderungsfalle den Prediger zu vertreten, sobald es dazu befähigt ist.

 

 

Ende des schriftlichen Auszugs



[1] Georg Schneider: (1855 - 1923); Von 1885 - 1910 erfolgreicher

   Prediger der Freireligiösen Gemeinde Mannheim.

[2] Wöllnersches Religionsedikt:

„Das Wöllnersche Religionsedikt vom 9. Juli 1788 war eine Kriegserklärung gegen den bis dahin herrschenden Geist der Aufklärung. Mit Hilfe von Zensur und vexatorischen (quälerischen) Maßregeln gegen Einzelne, die selbst vor Kant und gerade vor ihm nicht Halt machten, hoffte man mit ihm fertig zu werden.   . . . und so erhob sich ein heftiger Widerstand gegen diese Reaktion, an dessen Spitze man den allzu gewissenhaften und in seinem Alter auch ruhebedürftigen Kant nur ungern vermisst. Dieser Opposition war die Faulheit des „betrügerischen und intriganten Pfaffen“, wie Friedrich der Große Wöllner genannt hatte, ... nicht gewachsen .... Und ein Jahr nach dem Erlass des Edikts erhob sich im Westen die große revolutionäre Sturmflut [gemeint ist die Französische Revolution], die unter ihren Wogen schließlich Freund und Feind, Aufklärung und Reaktion verschlingen sollte.“

(Zitat aus: Theobald Ziegler  „Die geistigen und sozialen Strömungen des neunzehnten Jahrhunderts“  Berlin, 1899)

 

[3] Hinzufügung laut "Die Gegenwart", Leipzig, F.A. Brockhaus, 1853

[4] Angabe nach Georg Schneider