Unterscheidungslehren

und

Grundgedanken

der

freireligiösen Gemeinden

 

 

 

von

Wilhelm Hieronymi

                              

1872

 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

2015

Selbstverlag

Lothar Geis,

Mainz


 

Die Mitglieder unserer Religionsgemeinschaft sind aus den alten Gemeinschaften oder Kirchen [aus]-geschieden. Sie müssen daher nicht nur selbst wissen, warum sie das getan [haben], sie müssen auch Rede und Antwort geben können denen, die danach fragen.

Die Antwort liegt zwar in allen unseren Reden und Schriften, allein diese sind nicht in den Händen der Fragenden, auch sind unsere Schriften, gleich denen des alten Bibelbuches, nach der Verschiedenheit der Verfasser verschieden. Der Hinweis auf diese Schriften ist daher nicht eine befriedigende Antwort.

Da wir aber gemeinschaftliche Grundsätze haben, so muss es doch auch möglich sein, dieselben kurz zusammengedrängt  auszusprechen.

Das längst gefühlte Bedürfnis und eine Anregung von außen waren es, was mich bestimmte zu dem Versuch einer Antwort auf die Frage:

Wie sich unsere Religionsgemeinschaft von den alten Kirchen unterscheidet?

Wilhelm Hieronymi

Mainz, 1872


 


Übrigens . . .

Dass freireligiöse Bekenntnisse immer nur ureigene, individuelle Erklärungsversuche ohne maßgebenden Charakter darstellen, und für die Leserinnen und Leser allenfalls als Orientierungshilfe zum Auffinden des eigenen Standpunktes geeignet sind, darauf wies Wilhelm Hieronymi bereits 1875 - also drei Jahre nach Veröffentlichung  dieser Broschüre - hin. Er schrieb:

Auch ich habe schon vor mehreren Jahren, von außen dazu aufgefordert, einen ähnlichen Versuch gemacht . . . : "Grundgedanken und Unterscheidungslehren der freireligiösen Gemeinden, ein Verständigungsversuch von W. Hieronymi".

In dieser Schrift werden unsere Grundgedanken und unsere Unterscheidung von den Offenbarungslehren nach meiner Auffassung und mit aller mir möglichen Klarheit und Bestimmtheit dargestellt.

Die einzelnen Positionen, unser ganzes Lehrgebiet umfassend, werden darin mit möglichster Präzision ausgesprochen, und die Motivierung der Gedanken wird, gesondert von dem kurzen Ausdruck des Gedankens selbst, ausgeführt.

Diese Schrift hat in weiteren Kreisen unter uns Zustimmung, nirgends einen prinzipiellen Widerspruch gefunden, allein ich habe mich dennoch wohl gehütet, unsere Bundesversammlung darum anzugehen, dass sie meine Darstellung durch ihre Autorität sanktionieren und dieselbe gleichsam approbieren solle.

Ich habe nach dem vorhandenen Vorrat jedem anwesenden Mitglied der Bundesversammlung ein Exemplar ausgehändigt und dabei keine andere Autorität und Kraft für meine Gedanken beansprucht, als die in den Gedanken selbst notwendig sich kundgebende Wahrheit.

Lest, und findet ihr in dem Gelesenem ein Bekenntnis Eurer eigenen Gedanken, so ist mir es lieb, wo nicht, auch gut, zur Liebe kann ich Euch nicht zwingen, wer es besser weiß, mag´s besser machen.

Ja, das Schriftchen hat Anerkennung gefunden und ist bereits -  totgeschwiegen . . .


 

Ø      1.  Die Verfassung der alten Religionsgemeinschaften oder Kirchen beruht auf Autorität und Gehorsam.
Die unsrige auf Freiheit und Selbstbestimmung; die alten sind unfrei, wir sind frei in Verfassung und Lehre. „Freie Selbstbestimmung in allen religiösen Angelegenheiten“ ist der erste Grundsatz unserer Verfassung
.

Erläuterung:  In den alten Kirchen ist es die persönliche Autorität, welche regiert der Papst, die Bischöfe oder der Landesherr und die Konsis-torien. Die Gemeinden sind diesen Behörden gegenüber unmündig und rechtlos.

Bei uns ist der Gesamtwille der Gemeinde der Ursprung aller Anordnungen. Die Gemeinde wählt sich ihre Lehrer und Vorsteher [selbst]. Dieselben sind daher nicht Herren und Gebieter, sondern die Beauftragten, die Diener der Gemeinde.

Unsere Prediger sind nicht göttlich berufene Priester, Seelenhirten und Seelsorger, sondern Wortführer und Lehrer in der Gemeinde. Sie sind nicht gebunden an überlieferte Satzungen und Buchstaben, sondern an Überzeugung und Gewissen.

Der Unterschied von Geistlichen und Laien hat bei uns aufgehört.

Die einzelnen Mitglieder unserer Gemeinschaft sind verbunden durch die Gemeinde.

Die Gemeinden sind untereinander verbunden durch Landesversammlungen und die Bundesversammlung aller Gemeinden in Deutschland.

Durch diese unsere freie Verfassung sind wir nicht nur im Einklang mit den Freiheitsbestrebungen unserer Zeit, sondern auch mit den ersten christ-lichen Gemeinden, welche eine solche Verfassung besaßen, derselben aber im Laufe der Jahrhun-derte durch ihre Priester und Bischöfe beraubt wurden.

 

 


 

Ø      2.    Die alten Religionsgemeinschaften leiten den Ursprung ihrer Lehren aus einer über-natürlichen göttlichen Offenbarung ab,
wir aus der natürlichen menschlichen Vernunft.

Erläuterung:  Alle Religionen sind ohne Zweifel Erzeugnisse der menschlichen Vernunft und Geisteskraft.

Sie sind begründet worden durch Religionsstifter. [Es waren] weise Männer des Altertums. Diese Männer waren zumeist durch ihre Geistesgaben schon vor der Menge ihrer Zeitgenossen ausgezeichnet, aber noch mehr schienen sie ihren Nachkommen erhaben und erlangten [dadurch] endlich ein göttliches Ansehen. Man hielt die von ihnen überlieferten Lehren, welche der unwissenden, des Lesens und Schreibens unkundigen Menge zum Teil unverständlich waren, nicht mehr für menschliche Weisheit, sondern für göttliche Wahrheiten und Offenbarungen göttlicher Geheimnisse.

Die Priester förderten diesen Glauben der Völker, weil sie dadurch als Verwalter göttlicher Geheimnisse und als „Diener des göttlichen Wortes“ selbst in höherem Licht erschienen.

Der Offenbarungsglaube ist daher nichts anderes als ein Irrtum der Völker über den Ursprung der Religion. Dieser Glaube der Völker an den übernatürlichen Ursprung und an die unmittelbar göttliche Offenbarung der Religion ist aber einer der verderblichsten Irrtümer, welche die Menschheit je getragen hat. Denn wenn die Religion unmittelbar von Gott geoffenbart ist, so kann es nur eine wirkliche Offenbarung [und damit] nur einen wirklichen Glauben geben.

Und es ist [nur] natürlich, dass jedes Volk seine Religion für diesen göttlichen, allein wahren und seligmachenden Glauben hielt und den  der anderen  verdammte.  Daher erhob sich  denn  unter  den Völkern und den Parteien endloser Streit über die rechte göttliche Offenbarung und den wahren Glauben. Ein Streit, welcher bei der Rohheit der Völker und der Herrschaft ihrer Priester zu Verfolgungen [sowie] zu zahllosen Glaubensmorden und Glaubenskriegen geführt hat.

In den alten Kirchen besteht dieser Glaube an die göttliche Offenbarung der Religion noch fort und wird öffentlich in Schule und Kirche gelehrt, obgleich Millionen denkender Zeitgenossen diesen Glauben nicht mehr teilen.

Wir haben diesen Glauben gänzlich aufgegeben. Wir sind zurückgekehrt vom Glauben zum Denken, [also] von der Offenbarung zur Vernunft. Wir sind zur Vernunft [und damit] zu uns selbst gekommen.

 


 

Ø      3.   Die Lehre der alten Religionsgemeinschaften ist fortschrittslos und unwandelbar,
die unsere ist fortschreitend und entwicklungsfähig.

Erläuterung:   Aus dem Glauben an den unmittelbar göttlichen Ursprung der Religion ergibt sich folgerichtig auch der Gedanke, dass die Religion, wie von Gott geoffenbart, vollkommen und fertig sei. Daher müsse sie unwandelbar stets dieselbe bleiben. Der Mensch dürfe an diesem göttlichen Gnadengeschenk nichts ändern [oder] bessern, [und] dass [jede] Änderung und [Ver]besserung Ketzerei, [ein] Abfall vom Glauben und [damit eine] Empörung wider die gottgeoffenbarte Wahrheit sei.

Diesem Gedanken gemäß suchte nun die Priesterschaft den Glauben in seiner alten Gestalt oder, wie sie sagte, die „Reinheit der Lehre“ zu erhalten. Verbündet mit der Staatsmacht, bestrafte sie die Ketzerei mit Feuer und Schwert [und] schuf Inquisition und Scheiterhaufen.

Während aber die Religionslehre oder der Glaube der Völker unwandelbar feststand, schritt die Lebenserfahrung und die Erkenntnis der Völker fort. Es entwickelte sich neben dem Gauben die Wissenschaft. Und so entstand der heutige Zwiespalt im Geistesleben der Völker, der unmittelbare Widerspruch zwischen dem stillstehenden Glauben und der fortschreitenden Erkenntnis. [Es entstand der Widerspruch] zwischen Religion und Wissenschaft.

Wir haben diesen Widerspruch aufgehoben.


 

Ø      4.   Das Wesen der Religion der alten Religionsgemeinschaften ist der Glaube.
Das Wesen unserer Religion ist Erkenntnis.

Erläuterung:  Im hohen Altertum war noch kein Unterschied zwischen dem religiösen Glauben der Völker und ihrer Lebenserfahrung [bzw.] ihrer Erkenntnis [oder] ihrem Wissen. Ihr Wissen war ihr Glaube und ihre Religion. Die Religionsbücher der alten Völker umfassten das ganze Gebiet der damaligen Vorstellungen von der Welt, der Natur [und] dem Menschenleben. Sie erhalten die dunklen Anfänge aller heutigen Wissenschaften.

Das Alte Testament erzählt die Geschichte, die Gesetze, die Dichtungen  [Psalmen],  die Reden  [Propheten],  [ja]  überhaupt  die Überreste der Literatur des israelischen Volkes. Da aber die Priester zugleich die Gelehrten der Völker waren und diese Lehren niedergeschrieben haben, so wurden die überlieferten Lehren der Vorzeit gleichsam das Eigentum der Priester und verwandelten sich [so] in religiöse Satzungen und Dogmen. Die Priester verlangten Glauben an diese Lehren, und dem unwissenden, nicht selbst denkenden Volk fiel es nicht schwer, das, was die Priester lehrten, für wahr zu halten und zu glauben. Der Glaube wurde zum Wesen der Religion. Und da der Glaube an die alten Lehren und Vorstellungen, zumal in unserer Zeit, nur noch den Unwissenden, welche die neuzeitlichen Lehren nicht kennen, möglich ist, so fördern noch die heutigen Priester und Religionsgelehrten unter dem Namen der Religion die Unwissenheit und wollen „die Wissenschaft zur Umkehr“ zwingen. Sie verkünden den Glauben der Toten und verdammen die Erkenntnis der Lebendigen.

Das hat bei uns aufgehört. Wir gebrauchen das Wort Glaube nur da, wo eine eigene Wahrnehmung und ein Wissen nicht möglich ist, also von geschichtlichen Überlieferungen oder von Vorstellungen, welche der Erfahrung und dem Wissen unerreichbar sind. Wir verlangen nicht Glaube, sondern Erkenntnis und freies eigenes Denken. Unsere Religion ist unsere Überzeugung. Der Glaube bekehrt, die Erkenntnis belehrt. Des Glaubens Herrschaftsmittel sind Gebote und Satzungen, der Erkenntnis Lehrmittel sind Gründe und Beweise.


 

Ø      5.    Die alte Religionslehre gründet sich auf die alte Weltanschauung,
die unsrige auf die neue.

Erläuterung:   Da die alte Weltanschauung, wie sie zur Zeit Moses und zu Christi Zeiten unter den Völkern herrschend war, noch heute in den Volksschulen gelehrt wird, so ist bekannt:

Der Himmel ist ein festes Gewölbe, die Sterne daran [die] Himmelslichter, die Erde eine Scheibe und feststehend [und] die Sonne das „große“ Licht, über die Erde sich bewegend. Über die Erde [ist] der Himmelsraum, darin die Götter, die Engel und die Seligen, unter der Erde die Unterwelt und die Verdammten.

Dagegen die neue Weltanschauung: Das Weltall ist ein unendliches Ganzes, voll Leben und Bewegung. Die Sterne sind Weltkörper, größer zum Teil, vielleicht auch schöner als unsere kalte, lichtlose Erde. Die Erde ist eine Kugel in ordnungsvoller Bahn um die Sonne kreisend.

Die alte Weltanschauung beruht auf dem täuschenden Augenschein, die neue auf Erforschung und wissenschaftlicher Erkenntnis. Die Natur erscheint in der alten Weltanschauung als ein wüstes regelloses Reich voll Wunder und Zauber, voll Engel, Dämonen und Teufel; in der neuen [dagegen] als ein ordnungsvolles, nach ewigen göttlichen Gesetzen [sich] wandelndes System des Daseins.

Des „Glaubens liebstes Kind ist das Wunder“. Das Kind der Erkenntnis ist das Naturgesetz. Die alte Weltanschauung ist schon vor dreihundert Jahren gefallen, und da die meisten Lehrsätze der alten Religionslehre auf diese alte Weltanschauung gegründet sind, so sind auch diese alten Lehren für jeden einzelnen Zeitgenossen gefallen und unmöglich geworden, unmöglich selbst für ein unterrichtetes Kind.

Unmöglich ist z. B. der Glaube an eine Himmelfahrt da, wo kein Himmel mehr ist.

Unmöglich ist jeder Glaube an ein Wunder da, wo man die ewige Ordnung der Natur verstanden hat. Der Blick in das unendliche lebensvolle Weltall, welches uns die neuere Wissenschaft eröffnet hat, ist größer [und] erhebender als der Blick der alte Völker in die beschränkte Welt ihres Glaubens.

Die neuzeitliche Religion, wie sie in den Wissenschaften gegründet ist und wie wir sie zum Verständnis des Volkes zu bringen suchen, ist nicht nur wahrer, sondern auch erhebender und tröstlicher als die Religionen der alten Welt. Das Licht der Erkenntnis ist heilsamer und erfreulicher als das  Dunkel des Glaubens.


 

Ø      6.   Der Zweck der alten Religionsgemeinschaften liegt im Himmel; der Zweck der neuen liegt in dem Erdenleben. Die Priester der alten Kirche sind Seelenhirten und Seelsorger,
die Prediger unserer Gemeinden sind Volkslehrer.

Erläuterung:   Was ist die alte Kirche [und] was will sie?

Sie ist nach ihrer eigenen Erklärung eine Heils- und Erlösungsanstalt.

Sie will ihre Mitglieder für den Himmel erziehen und vorbereiten.

[Sie] will ihnen durch Glauben an ihre Lehren, durch die Anbetung Gottes und die Übung der frommen Bräuche, der Sakramente und Heilsmittel die Vergebung der Sünden und die ewige Seligkeit erwerben.

Die Kirche ist eine Vorbereitungsanstalt auf Erden für den Himmel [und] eine Versicherungsanstalt der ewigen Seligkeit.

Nachdem nun aber jener Himmel der Götter und der Seligen vor dem Geistesblick der Völker
hinweg genommen ist, muss die Religion notwendigerweise vom Himmel zurückkommen zur Erde, d. h. die neuzeitliche Religionsgemeinschaft ist eine Erziehungs- und Bildungsanstalt für die Erde.

Ihr Zweck ist, die Menschen durch Unterricht und Lehre zu veredeln, sie vernünftiger, sittlicher und dadurch glücklicher zu machen und das Zusammenleben der Menschen in ein Reich des Friedens und der Brüderlichkeit zu verwandeln [und] die Menschen fortschreitend zu erlösen.


 

Ø      7.  Die alten Religionsgemeinschaften betrachten die Erlösung der Menschen als eine einmal geschehene Tatsache,
wir betrachten dieselbe als ein fortschreitendes Geschehen. Die alte Kirche will den Menschen erlösen von gedachten und geglaubten, wir von wirklichen Übeln.

 Erläuterung:   Nach der Kirchenlehre ist Jesus Christus der alleinige Erlöser. Er erschien als Gottessohn im Fleisch, ward Mensch, trat zur Zeit des römischen Kaisers Augustus im jüdischen Land auf, ließ sich von den Juden martern und kreuzigen [und] besänftigte dadurch den Zorn Gottes. Er trug als Unschuldiger die Strafe der schuldigen Menschen und erlöste dadurch die Menschen, [jedoch] nicht alle, sondern nur die „kleine Zahl der Auserwählten“, welche den rechten Glauben haben.

Die Erlösung der Kirchengläubigen liegt also in der Vergangenheit, in einem Punkt der Zeit, an einem Ort des Raums. Dahin schauen sie gläubigen Blickes zurück, glauben an die Erlösung und handeln nicht für dieselbe. Die Welt bleibt [nämlich] wie sie war, ungebessert, unerlöst. Und von welchen Übeln will die Kirche sie erlösen? Von der Erbsünde, Hölle, Teufel und ewiger Verdammnis, also von Übeln, welche sie selbst zuvor erdacht hat.

Dagegen streben wir  die Menschen zu erlösen von wirklichen Übeln, von Unwissenheit, Aber-glauben und Rohheit und von den Übeln des geistunterdrückenden Priestertums. Und diese Erlösung geschieht nicht plötzlich und auf einmal, nicht wunderbar und zauberhaft, sondern fortschreitend und immer in natürlicher Wiese.

[Sie geschieht] nicht durch Glauben und Hoffen, sondern durch unser Tun, durch unser Arbeiten und Mitwirken. Die Erlösung [ist] eine fortschreitende Selbsttat der Menschheit.

Der Entwicklungsgang der Menschheit [ist] ein Aufgang zum Licht.

 


 

Ø      8.   Die alten Religionsgemeinschaften betrachten die Welt als eine Maschine, einen Mechanismus.

Wir betrachten dieselbe als ein unendliches lebensvolles Ganzes, einen Organismus.

Erläuterung:   Das Weltall ist ein Unendliches. Das Unendliche kann der Mensch nicht ausdenken; er muss seine Vorstellung stets entlehnen von dem Endlichen und Wahrnehmbaren.

Die alte Religion entlehnt ihre Vorstellungen von einer Maschine, einem menschlichen Kunstwerk. Sie lehrt, Gott habe im Anfang der Dinge die Welt aus Nichts geschaffen, durch einen einmaligen Schöpfungsakt. Die Welt gehe nun nach den von dem Schöpfer in sie gelegten Kräfte wie ein Uhrwerk ihren Gang. Der Schöpfer lebe, wie ein menschlicher Künstler, nicht in, sondern neben und außer dem Werk. Er beaufsichtige die Welt und leite ihren Gang nach seiner Vorsehung. „Gott regiert die Welt“.

Zuweilen greift Gott aber auch ausnahmsweise in den Gang der Dinge ein. Ein solch unmittelbarer Eingriff in die Weltordnung ist ein Wunder.

Das Wunder ist allen alten Religionen gemeinsam.

Dagegen erscheint uns die Welt als ein geordnetes System des Daseins, ein Organismus, bewegt und beseelt durch ein innewohnendes unendliches und ewiges Leben. Die Schöpfung ist nicht ein einmaliges Geschehen, sondern ein fortwährendes und ewiges Geschehen, eine stetige Entwicklung, ein ewiges Werden und Anderswerden. Nur das Einzelne hat Anfang und Ende seiner Erscheinung, das Ganze ist ewig.

Der Gedanke einer Schöpfung aus Nichts ist ein Irrtum, ebenso wie der Gedanke einer Rückkehr ins Nichts. Die schöpferische Macht und Kraft des Weltalls, das Leben, die Seele, den Geist des Alls – wir nennen es mit dem Wort der Religion, mit dem Wort der Völker: Gott.


 

Ø      9.   Die alten Religionen denken Gott als ein für sich seiendes, von der Welt getrenntes, persönliches Wesen.
Wir denken ihn als das der Welt innewoh-nende schöpferische Leben, das Allwesen des Lebens.

Erläuterung:  Der Name und das Wort „Gott“ ist von den Priestern aller Zeiten und aller Völker oft missbraucht worden. Im Namen und „zur größeren Ehre Gottes“ haben christliche Priester des Mittelalters ihre schwärzesten Verbrechen an der Menschheit begangen. Deshalb vermeiden manche Denker der Neuzeit das Wort „Gott“ und wählen vielfach andere Bezeichnungen. Keine ist genügend, um das unendliche Wesen des Lebens ausreichend zu bezeichnen.

Aber selbst diejenigen, welche man Atheisten nennt, haben einen Gottesbegriff, und sei auch nur „der Stoff“ ihre Gottheit.

Jeder Mensch weiß, dass er sich nicht selbst ins Leben gerufen [hat], dass er nicht infolge des eigenen Willens lebt, nicht aus eigenem Willen stirbt [und] nicht aus eigenem Willen Schmerz und Leid erduldet. [Jeder spürt], dass es also eine Macht gibt, in der „wir leben, weben und sind“.

Wer das weiß und fühlt, der „glaubt an Gott“, ja er weiß Gott, mag er jene ewige Macht nun Jehova, Brahma, Allah, Gott [oder] Natur nennen. Es ist Name, und jeder denkt sich diesen Begriff nach der eigenen Geistesfähigkeit und Denkkraft.

Wir denken Gott nicht als ein von der Welt getrenntes Einzelwesen. Wir denken ihn als das Allwesen, das unendliche Leben des Weltalls, welches alles Einzelleben aus sich erzeugt und in sich zurücknimmt, denn das Weltall erscheint uns als ein lebendiges unendliches Ganzes.

Das „Allwesen“, das soll nicht heißen, dass wir dieses sichtbare Weltall selbst Gott nennen, denn der Begriff Gott ist ein Ursächlichkeitsbegriff, ein abstrakter, wie der Begriff Kraft.

Was wir sinnlich wahrnehmen, ist immer nur eine Erscheinung [oder] die Wirkung. Die Ursache denken wir. Wir sehen [nur] die Veränderungen [und] die Bewegung in der Körperwelt. Was sie hervorbringt, nennen wir Kraft. Wir sehen die organischen Verwandlungen einer Pflanze, was sie hervorbringt, nennen wir das Leben der Pflanze.

Was die Kraft, was das Leben ist, kein Glaube, keine Weisheit offenbart es uns. Wir sehen immer nur die Offenbarungen, [d. h.] die Erscheinungen der Kraft und des Lebens. Doch sehen wir auch, dass die Kraft nie ohne Stoff, das Leben nie ohne Organismus ist. Und obwohl wir wissen, was die Kraft oder was das Leben ist, so sind wir doch durch das Denkgesetz unseres Geistes auf die Begriffe getrieben. Selbst diejenige altneue Philosophie, welche man Materialismus nennt, weil die den Stoff, die Materie der Körperwelt, als das Grundwesen aller Dinge ansieht, ist genötigt, zu dem Begriff Stoff noch den anderen Begriff Kraft hinzuzunehmen, sonst bleibt ihr „Stoff“ tot. Stoff und Kraft, beides sind abstrakte Begriffe.

Die Materialisten glauben zwar, sie wüssten, was der Stoff [der Stoff an sich] ist, weil sie ihn sähen. Sie wissen es nicht, trotz aller chemischen Elemente. Sie sehen den Stoff nicht, trotz aller Vergrößerungsgläser. Was sie sehen, ist immer nur Erscheinung des Stoffes, ist Körper.

Es gibt keine kläglichere Philosophie als diejenige, welche sich einbildet, sie sei Naturwissenschaft und wisse demgemäß, was der Stoff ist, indem sie sagt, der Stoff bestehe aus Atomen oder unteilbar kleinsten Teilchen, welche durch ihre Annäherung oder Trennung das ganze wunderbare System des Lebens, selbst die Erscheinungen des Selbstbewusstseins [bzw.) des Gedankens erzeugten.

Der Begriff eines unteilbar kleinsten Teilchens ist ein logischer Widerspruch, ein Unsinn. Die altneue philosophische Lehre, dass der Stoff nur zu einer bestimmten Grenze teilbar sei, ist ebenso schwach als etwa die Behauptung, dass der Raum des Weltalls nur bis zum nächsten Nebelfleck des Himmels reiche.

Dagegen ist die Chemie als Wissenschaft der Erscheinungen und ihrer Gesetze vollkommen berechtigt, die Hypothese oder Annahme der Atome festzuhalten. Chemische Atome oder Stoffe, welche diese Wissenschaft nicht mehr in einfachere auflösen kann, gibt es.

Aber das Ewige, das Unendliche, im Großen wie im Kleinen, ist unvorstellbar [und] daher nicht Gegenstand der empirischen oder erfahrungsgemäßen Naturwissenschaft.

Doch ob[gleich] wir weder wissen, was der Stoff, noch was die Kraft ist, so sehen wir sie doch stets vereinigt. Ihr Zusammensein erzeugt das ganze ungetrennte Dasein. So wie Stoff und Kraft stets vereinigt sind, so [auch] Gott und die Welt. Die Welt [ist deshalb] nie ohne Gott und Gott nie ohne die Welt. Gott ist die Welt, er ist das schöpferische Leben, das Leben, welches in zahllosen Einzelleben sich offenbart. Daher mit anderen Worten noch:


 

Ø      10.   Die alte Religionslehre beruht auf dem Gedanken der Zweiheit des Daseins (Dualismus),
die neue auf dem Gedanken der Einheit (Monismus).

Erläuterung:   Der Gedanke der Zweiheit zieht sich durch die ganze Welt- und Lebensbetrachtung der alten Religion. Gott, ein Wesen für sich, er hat die Welt geschaffen. Die Welt, ein Wesen für sich, sie wird von Gott regiert. Der Leib des Menschen, ein selbständiges Wesen, der Geist, ein [eben]solches selbständiges Wesen. Der Leib [ist] die Wohnung, der Geist [der] Bewohner des Leibes.

Die Geistlichen, ein Stand für sich, sind eine andere Art Menschen als die Laien. Die heiligen Dinge sind andere als die profanen und unheiligen. Die Lehren der Religion oder Theologie sind andere als die Lehren der Weltweisheit oder Philosophie.

Leib und Geist, beide Wesenheiten, allerdings in ihren Erscheinungsformen höchst verschieden, allein sie bilden doch ein Ganzes – den Menschen. Und obgleich diese Vereinigung uns unerklärlich ist, ist sie wirklich. Und so verschieden Stoff und Kraft zu sein scheinen, sie sind stets vereinigt und müssen in ihrem Grundwesen eines sein. So ist denn auch Gott und Welt als unendliche Einheit des Daseins zu denken.

Auch der alte Glaube lehrt, Gott sei unendlich und die Welt sei unendlich; also zwei unendliche Wesenheiten nebeneinander. Das ist ein Widerspruch, weil das eine Unendliche das andere beschränken müsste. Sie können daher nicht aus[einander] oder nebeneinander, sondern nur in[einander] und miteinander gedacht werden.

Leib und Geist, Stoff und Kraft, Gott und Welt [sind] in ihren Erscheinungsformen so verschieden und doch [sind sie] zu wunderbarer, unergründlicher Einheit verbunden. Dass sie es sind, wissen wir, aber wie sie es sind, begreifen wir nicht, weil wir nicht wissen, was sie sind, weil wir nur die flüchtige Erscheinung der Dinge, nicht [aber] ihr ewiges Wesen schauen können, weil unsere schwachen Sinne nur die Oberfläche der Dinge wahrnehmen. Wir sehen die Körper, aber denken die Kraft. Wir glauben an sie. Wir sehen die Welt, aber wir denken Gott. Wir glauben an ihn.

Ø      11.  Die ältesten Religionen denken ihre Götter als räumlich beschränkte, körperliche, menschenähnliche Wesen. Die christliche Kirche lehrt: Gott ist „ein“ Geist.
Wir sagen: Gott ist Geist oder der Geist d. h. die ewige Wahrheit der Geisteswelt, die Vernunft des Weltalls.

Erläuterung:   Wie wir die Grundwesenheit der Körperwelt und allen körperlichen Erscheinungen Stoff nennen, so nennen wir die Grundwesenheit der Geisteswelt und aller geistigen Erscheinungen Geist. Die Gedanken und Selbstbewusstsein erzeugende Macht nennen wir Geist. Stoff und Geist sind in gleicher Weise abstrakte Vorstellungen von gleicher philosophischer Bedeutung.

Wir kennen beide nicht in ihrem Wesen, sondern nur in ihren wahrnehmbaren Offenbarungen. Der ewige Stoff offenbart sich in zahllosen körperlichen Gebilden, der ewige Geist in zahllosen Geisteswesen. Wir können das Ewige, das Unendliche, nicht denken und müssen unsere Vorstellungen, wie wir schon sagten, immer dem Endlichen entlehnen. Das höchste Wesen, das wir kennen, ist der Mensch und das Höchste in dem Menschen ist der Geist. Daher können wir sagen: Gott ist Geist. So heißt das: Wir entlehnen unsere Vorstellungen von dem Menschengeist.

In dem Menschen sehen wir Stoff und Geist in wunderbarer, unerforschlicher Weise vereint, und nach diesem Bild denken wir uns das Weltall. Der Mensch, die kleine Welt (der Mikrokosmos), das Weltall, die unendliche Welt (der Makrokosmos). Der menschliche Geist erscheint uns demnach als eine Offenbarung des ewigen Geistes, ein Lichtstrahl aus dem ewigen Licht [und] die menschliche Vernunft [als] eine Erscheinung der ewigen Vernunft.

Das Weltall ist ein Vernunftreich. Wäre nicht Vernunft im Weltall, so wäre die Vernunft nicht in uns, die wir ein flüchtiges Gebilde der Weltkräfte sind. Wäre nicht im Weltall Licht, wie könnte unser Auge Licht sehen? Die Naturgesetze sind vernünftige Gesetze. Nicht rohe, sinnlose Kräfte sind es, welche dieses ordnungsvolle, wunderbare System des Daseins im Großen und im Kleinen gestalten. Im Weltall ist Sinn und Verstand. Wäre es nicht so, so könnte unsere Wissenschaft nicht Gesetze, d. h. Verstand, im Weltall finden, dann gäbe es keine menschliche Wissenschaft. Wir haben die Wissenschaft der Mathematik, weil ihre Regeln gleichsam am Himmel geschrieben stehen. Jedes Naturgesetz, welches der menschliche Geist ergründet, ist gleichsam ein Auffinden des Urgedankens, und alles, was die menschliche Kunst bildet, ist ein Nachbilden der Urgebilde. Im Weltall ist Sinn und Verstand, weil Sinn und Verstand in uns [ist].

Dass der Zufall oder das Spiel sinnloser Kräfte dieses wunderbare System des Daseins erzeugte, glauben wir ebenso wenig, als wir glauben, der Zufall oder die Anziehungskraft habe die Lettern eines sinnvollen Buches zusammengeführt und diese Reihe von Zeichen erzeugt. „Wo rohe Kräfte sinnlos walten, da kann sich kein Gebild´ gestalten!“. In dieser Vernünftigkeit des Weltalls liegt auch das, was der alte Glaube die Vorsehung nennt.


 

Ø      12.   Die alten Religionen glauben an die ewige Dauer der geistigen Persönlichkeit des einzelnen Menschen.
Wir können diesen Gedanken nur als unbewiesenen Glauben, als Hoffnung, betrachten. Dagegen erkennen wir die ewige Dauer der Wesenheit des Geistes.

Erläuterung:   Allen flüchtigen und vergänglichen Erscheinungen des Daseins liegt, wie wir erläutert haben, ein Ewiges, ein Bleibendes zugrunde. Alles schwindet, alles stirbt, und doch auch alles bleibt.
Der Tod ist nicht Vernichtung, sondern nur Verwandlung.

Vergänglich ist die Erscheinung der Dinge, ewig [hingegen ist] das Wesen derselben. Das ewige Wesen der Körperwelt, wie wir eben besprochen haben, nennen wir den Stoff; seine Gebilde und  Erscheinungsformen sind die Körper. 

Alle Körper, selbst die dauerhaftesten, sind vergänglich. Der Stoff aber, das gedachte Grundwesen der Körperwelt, ist „unsterblich“, wie die alten und neuen Philosophen erklären und unser eigenes Denken es bestätigt.

Kein Atom, kein Hauch, kein Lichtstrahl kann aus der Unendlichkeit des Weltalls verloren gehen, er entschwindet unserer Wahrnehmung, aber er wird nicht vernichtet. Ja selbst die Kraft, wie die neueren Forscher lehren, bleibt, und jede Kraftäußerung dauert in Gestalt der Wärme fort.

Dasselbe, was wir sagen müssen von der Grundwesenheit der Körperwelt, vom Stoff, dasselbe müssen wir sagen von der Grundwesenheit der Gedankenwelt, vom Geist.

Aber von der „Unsterblichkeit des Stoffs“ reden die neueren Philosophen, von der Unsterblichkeit des Geistes reden die alten: beide mit gleichem Recht. Denn wie allen flüchtigen und körperlichen
Erscheinungen ein Ewiges und Bleibendes zugrunde liegt, so auch allen flüchtigen Gedankenerscheinungen. Das Dasein des Gedankens und der Geisteswelt ist nicht minder wirklich als das Dasein der Körper und der Stoffwelt.

Während alles wirklich ist, der Stoff und die Kraft, soll diejenige Kraft in uns, welche in Verbindung mit dem Stoff die Empfindungen und Gedanken erzeugt, soll [also] das Geisteslicht allein nichtig und unwirklich sein und zurückkehren ins Nichts?

Und doch ist der Geist oder die Gedanken erzeugende Kraft in uns höher und erhabener als jede andere Naturkraft, denn sie erzeugt die höchste Erscheinung des Daseins, das Wissen vom Dasein [nämlich] das Selbstbewusstsein. Dass der selbstbewusste, die Dinge und sich selbst erkennende Gedanken nichts weiter als eine Bewegung im Gehirn, dem Fleischklumpen, [ist], das glauben wir  ebenso wenig als etwa, dass die Bewegung des Telegrafendrahtes die Elektrizität sei.

[Wenn] wir sagten: Der Stoff ist ewig und unsterblich, [jedoch] kein Gebilde des Stoffs [und damit auch] kein Körper, so müssen wir auch sagen: Der Geist ist unsterblich [jedoch] keine Erscheinung des Geistes, [also auch] keine Persönlichkeit, kein Ich.

Wem es daran liegt, seine geistige Persönlichkeit, sein Ich, welches durch die körperlichen Organe und die besonderen Lebensschicksale des Einzelnen bedingt ist, durch alle Ewigkeiten fortzuführen, der muss sich an den Glauben halten und die Theologie.

Uns  ist  es  genug  zu wissen: wir gehören einem unendlich lebevollen Weltall an.  Aus  ihm wurden  wir, in ihm leben wir,  in ihm bleiben wir.  Der Tod ist nicht Vernichtung,  er ist Verwandlung. Ewig fließt des Lebens unerschöpflicher Quell.


 

Ø      13.   Die Lehren der alten Religionsgemeinschaften beruhen vorherrschend auf der Geistestätigkeit der Fantasie und Einbildungskraft,
die neuen auf dem Verstand und der Denkkraft.

 Erläuterung:   Wie im heranwachsenden Kind die dichtende und bildende Einbildungskraft früher erwacht als der denkende und prüfende Verstand, so [erscheint es uns] auch in den sich entwickelnden Völkern. Die alten Völker, wie die Dichter [auch] noch heute, personifizierten, d. h. sie dachten abstrakte Begriffe im Bild der Persönlichkeiten. Die Naturkräfte wurden personifiziert [und] sie wurden zu Persönlichkeiten, zu Göttern.

Die monotheistischen Religionen dachten das schöpferische und bildende Weltleben als eine Person, [als] einen persönlichen Gott im Himmel. Der mittelalterliche Kirchenglaube ist ein Gemisch von Fantasievorstellungen und abstrakten Begriffen. Noch die heutige Theologie bewegt sich in dem Widerspruch, da sie lehrt, Gott sei eine Person, [also] ein persönlicher Gott, und auch, Gott sei allgegenwärtig.

Wenn er wahrhaft allgegenwärtig ist, so ist er eben nicht persönlich, [dann] ist er kein Ich, denn das Ich entsteht erst im Gegensatz gegen andere Personen. „Gott ist allgegenwärtig!“, kann nur heißen, er ist das Allwesen des Geistes, das Ewige, und alle zahllosen Persönlichkeiten sind Offenbarungen des Allwesens.

Die Priester bedürfen aber eines persönlichen Gottes, weil ein solcher Gott im Himmel der Engel und auf Erden der Priester als seiner Diener bedarf, die ihn lobpreisen zur Vermehrung seiner Ehre und ihn gegen seine Feinde verteidigen, während der Allgegenwärtige alles selbst bewirkt.

Wie der altertümliche Glaube, so macht es die Poesie und Dichtung noch heute, sie personifiziert.

Da singt und klingt es heute überall von der Germania, sie ist ein schönes, kräftiges Weib. Niemand hat sie [je] gesehen, und doch hat sie die „Wacht am Rhein“ gehalten, und sie ist wirklich, [denn] sie ist das deutsche Vaterland. So ist es mit dem persönlichen Gott der Gläubigen, er ist wirklich. Er ist die personifizierte Schöpferkraft, das Leben der Welt.


 

Ø      14.   Die christliche Rechtgläubigkeit glaubt an Jesus Christus als einen Gott,
der prüfende Verstand denkt ihn als einen Menschen.

Erläuterung:   Der  Christusgott  der  Theologie  ist  eben  nichts  anderes als  eine  altertümliche  Personifikation  der  Gottheit,  und  zwar eine solche,  welche sich an einen in der Vorzeit gelebt habenden Menschen anschließt, den sie vergöttert. Jesus von Nazareth, der Reformer, der Messias und Erlöser der Juden, ward bald zum Heiland der Welt und endlich zum „wahren Gott vom Vater in Ewigkeit  geboren“.

Solche Inkarnationen oder Menschwerdungen der Gottheit finden sich in vielen alten Religionen, und ausgezeichnete Menschen der Vorzeit wurden in der Erinnerung der Völker Söhne der Götter oder selbst Götter.

Von der Vergötterung eines noch lebenden Menschen bietet uns in neuester  Zeit ein Beispiel in der Unfehlbarkeit des Papstes, einer Inkarnation des Heiligen Geistes oder vielmehr des römischen Priestergeistes. Wer noch auf dem Standpunkt dieses unglaublichen Glaubens steht, wer da noch glauben kann, dass die unendliche, die ewige Gottheit zu einem einzelnen Menschen werden könne, der lebt nicht in der Erkenntnis der Gegenwart, sondern in der Mythologie der Vorzeit. Er hat fehlenden Verstand ersetzt durch Theologie. Mit der Theologie zu streiten, finden wir uns nicht bewogen.


 

Ø      15.   Die christliche Rechtgläubigkeit stellt den Heiligen Geist dar als einen besonderen dienstbaren Geist der Priesterschaft.
Wir denken ihn als Geist der Menschheit, als Geist der Wahrheit und des Lichts, als den Paraklet oder „Tröster“, der nach der Verheißung Jesu seine Jünger in alle Wahrheit leiten soll.

Erläuterung:  Die alten Völker dachten die Gottheit als eine Persönlichkeit im Himmel. Auf Erden sahen sie diese Gottheit nicht.

Auf Erden sahen sie nur eine  allwaltende schöpferische Kraft. Diese, im Gegensatz zum Leib Gottes, nannten sie den Atem, den Hauch [oder] den Geist Gottes.

Gott der Weltschöpfer war im Himmel, aber der Geist Gottes „schwebte auf den Gewässern der finsteren Tiefe“. Und wo dieser Geist Gottes in der sittlichen Welt, in den Geistesgaben der Menschen [oder] in der Begeisterung der Propheten wirksam war, da nannten sie ihn den Heiligen Geist.

Diesen Geist Gottes personifizierte nun die dichtende Theologie und machte ihn zu einer besonderen Art Gottheit, zu einer zauberhaften göttlichen Kraft. Und diese Kraft nahmen die Priester besonders für sich in Anspruch, teilten sich dieselbe gegenseitig mit durch Zeremonien und Händeauflegen. Dieser priesterliche Heilige Geist offenbart sich aber leider nur zu oft durch priesterlichen Hochmut und durch Verfluchung Andersgläubiger.

Wir glauben nicht an ihn. Aber wir glauben an den sittlichen Gesamtgeist der Menschheit, jenen Geist, der die Menschen treibt, nach Wahrheit und Licht zu trachten, der die Erfahrungen und Erkenntnisse der Menschheit sammelt, sie von einem Geschlecht auf das andere überträgt, sie stets vermehrt zu einem großen Geistesschatz der Menschheit, zur Wissenschaft.


 

Ø      16.   Der Kultus des Gottesdienstes der alten Religion ist vornehmlich Zeremonie, heilige Bräuche und Anbetung.
Unser Kultus ist ein sittliches Leben.
Die Sakramente oder Heilsmittel der Kirche sind zauberhafte, übernatürliche Bräuche.
Unser Heilsmittel sind Belehrung, Erziehung, Unterricht.

Erläuterung:   Die alten Völker dachten die Götter nicht nur in menschlicher Gestalt, sondern auch behaftet mit menschlichen Wünschen, Begierden und Leidenschaften. Die Götter waren aber mächtige Wesen und Oberherren der Menschen. Daher fürchteten diese die Götter. Und daher suchten sie das Wohlgefallen der Götter zu gewinnen, weihten ihnen Anbetung, Verehrung und Dienst [und] brachten ihnen Opfer, Gaben und Gelübde. [Sie] priesen sie durch Lobgesänge und wendeten sich an sie im Gebet und Flehen.

Das Wesen der alten Religion ist Gottesfurcht im eigentlichen Sinne des Wortes. Und da die Priester die Diener der Götter und die Kundigen ihrer Geheimnisse waren, so gehörte zur Gottesfurcht auch Priesterfurcht und Priesterverehrung.

In diesem Sinn hat die denkende Neuzeit keinen Gottesdienst und keinen Kultus mehr. Die ewige und unendliche Gottheit ist über menschlichen Dienst erhaben. Der Mensch kann ihre Ehre nicht mehren oder mindern; er kann sie durch Gebet und Flehen nicht rühren. Und wie einst die Opfer, so haben auch die Sakramente oder zauberhafte fromme Bräuche zur Verehrung der Gottheit unter uns aufgehört.

Durch unseren „Gottesdienst“ dienen wir uns selbst. Er hat den Zweck der Belehrung, der Erbauung und Gemütserhebung [sowie] der sittlichen Besserung. Wir verwerfen nicht feierliche Bräuche, wo sie sinnvoll sind und schön, aber sie dienen nur als Sinnbilder sittlicher Gedanken.

Das Wesen der neuzeitlichen Religion ist nicht mehr Gottesfurcht und Scheu vor den Göttern, sondern die Entwicklung des Göttlichen in uns [also] Veredlung des Herzens und Erleuchtung des Verstandes.


 

Ø      17.   Das Altertum personifizierte die Kräfte der Natur und betete sie als Gottheiten an.

Wir suchen dieselben zu verstehen, zu begreifen und zwingen sie zu unserem Dienste. Wir
machen sie zu Helfern und Dienern unseres Lebens.

Erläuterung:  Die oberste Gottheit der alten Völker [waren] die Kraft des Blitzes und des Donners. Wir haben sie in den Telegraphen zum Eilboten unserer Gedanken gemacht. Und die Macht des Feuers und des Wassers muss für uns arbeiten, muss tausend Räder und Maschinen in Bewegung setzen, muss die frühere Sklavenarbeit der Menschen verrichten. Sie muss uns in den dampfbespannten Wagen wie auf Adlerschwingen in die Ferne tragen. Deshalb ist das Wort der Schrift erfüllt, dass der Mensch der Herr der Erde sei. Der Mensch, der die Gottheit in den weiten Räumen des Himmels gesucht hat, hat sie, die allgegenwärtige, endlich nahe bei sich gefunden. Er hat sie gefunden im eigenen Geist, dem Licht aus dem ewigen Licht.


 

Ø      18.   Das Sittengesetz der alten Religionen stellt sich dar als das Machtgebot eines außerweltlichen Gottes;
das Sittengesetz der neuen Sittenlehre erscheint als die Forderung des eigenen menschlichen Herzens.

Erläuterung:  - Du sollst dies tun, sollst jenes lassen, so spricht man zu einem Kind, dessen eigene Vernunft noch nicht entwickelt ist. Und genauso sprachen die Gesetzgeber der alten Religionen zu den Völkern: „Du sollst“, denn so gebietet es der Herr, dein Gott. Der Rechtsbegriff war in den alten, rohen Völkern noch nicht entwickelt, die Furcht vor den Göttern musste den Gesetzgebern helfen.

Daher stellten sie ihre Gesetze nicht sowohl als gesellschaftliche Notwendigkeiten, sondern als Gebote Gottes dar. Wenn aber das Kind erwachsen ist, dann lehrt man es zu verstehen, was gut und was recht ist, und es erkennt dann, was das eigene Herz gebietet.


 

Ø      19.   Der Antrieb zur Sittlichkeit liegt nach den alten Religionen in dem Gedanken des Lohns oder der Strafe,
nach der neuen Lehre in der Liebe zum Guten selbst.

Erläuterung:  Wenn du deinem Mitmenschen liebreich und gefällig bist, wenn du in der Not ihm hilfst, [so] wird er dir dankbar sein. Sollte er aber erfahren, du hättest das alles getan aus Verlangen nach Lohn bei Gott, so wird des Nächsten Dankbarkeit und der Wert deines Tuns verschwinden. Und wenn du das Böse unterlässt aus Furcht vor der göttlichen Strafe, so bist du dennoch böse.

Nein, das Gute tun aus Liebe zum Guten, es tun, weil man selbst gut ist, das Gute auch dann tun, wenn es einem Gefahr und Nachteile bringt, das Böse lassen, weil man es hasst, es [auch] zu lassen, selbst wenn es Vorteil und Lohn verheißt, das ist wirkliche Sittlichkeit.

Wer aus Sucht nach Lohn [oder] aus Furcht vor göttlicher Strafe handelt, der mag ein Frömmler sein. Aber er ist weder fromm noch tugendhaft. [Er] ist ein Lohndiener, der auf das Trinkgeld wartet oder ein Sklave, der die Peitsche fürchtet.

Hoffen wir, dass dieser Begriff von Sittlichkeit, wie er längst von allen Denkenden erkannt wird, auch in unseren Staaten und Schulen zur Geltung gelangen wird, damit die Zucht- und Strafhäuser durch gute Schulen mehr und mehr überflüssig werden. Gut aber werden die Schulen erst dann sein, wenn sie von der Kirche getrennt sind.


 

Ø      20.   Die alten Religionen suchen die sittliche Pflicht der Menschenliebe vornehmlich zu
betätigen durch Almosen.

Die neuzeitliche Religion sucht jene Pflicht zu betätigen durch solche gesellschaftlichen Einrichtungen, welche das Almosen entbehrlich machen.

Erläuterung:  Alle Religionen der Vorzeit stellen das Almosengeben als religiöse Pflicht dar. Es ist auch überall da notwendig, wo die gesellschaftlichen Zustände der Völker ungeordnet und unvollkommen sind.

Das Almosen ist eine natürliche Betätigung des menschlichen Mitgefühls, allein es ist anerkanntermaßen ein übles Heilmittel der Armut. Es entwürdigt den Empfänger des Almosens und unterhält mit dem Armen auch die Armut und den Müßiggang. Darum ist das Bestreben der Neuzeit darauf gerichtet, solche Einrichtungen, Verbindungen und Vereine zu schaffen, durch welche der drückende Unterschied zwischen arm und reich möglichst ausgeglichen wird [und] durch welche jeder arbeitsfähige Mensch in den Stand gesetzt wird, seinen Lebensunterhalt durch Arbeit zu erlangen. [Auch muss es möglich sein], dass der Arbeitsfähige und Hilflose durch gesellschaftliche Hilfe erhalten werde, so dass jeder Einzelne seines Lebens Halt und Trost in der Gesellschaft findet.

Solche Einrichtungen sind möglich. Sie sind auch in ihren Anfängen schon vorhanden und werden sich fortschreitend entwickeln, doch nur nach Maßgabe des Fortschritts unseres gesamten gesellschaftlichen Zustands und namentlich im Fortschritt der Volksbildung. Die sozialen Bestrebungen der Neuzeit, richtig verstanden, sind sitt-licher und religiöser Natur.

Allein, wer da glaubt, dass solche Einrichtungen plötzlich und auf einmal geschaffen werden könnten, wer von einer plötzlichen Umwandlung der menschlichen Gesellschaft träumt, der ist ein Schwärmer und wird seine Hoffnung ebenso getäuscht sehen wie die alten religiösen Apostel ihre Hoffnung auf das Himmelreich. Und wer zur Verwirklichung seiner sozialen Ideen die Gewalttat und die Leidenschaft der Menschen anfacht, der sät Unheil und wird solches ernten.

Das Menschenleben ist ein steter Kampf gegen Übel, und jeder Fortschritt ist ein Freiwerden von einem Übel. Wenn das eine verschwunden ist, dann zeigt sich schon ein anderes. Noch kämpfen wir gegen sehr alte Übel. Noch sehen wir, wie die Völker einander gegenüber stehen, gerüstet mit Mordwaffen, als ob sie nicht gesittete Menschen, sondern allzumal Räuber seine.

Noch sehen wir, wie sich die Völker auf blutigen Schlachtfeldern einander gegenseitig morden, ihre Städte und Dörfer zerstören und die Früchte ihrer Arbeit vernichten. Und der ganze Überschuss, der Gewinn des Fleißes, welcher der Bildung, dem Unterricht, der Verschönerung und Erleichterung des Daseins, der Bekämpfung der Armut gewidmet sein sollte, er wird selbst im Frieden verschlungen durch die Waffenrüstungen.

Noch kämpfen wir um politische Freiheit, als ob wir Sklaven wären, deren höchstes Gut die Freiheit ist, als ob die Freiheit bei einem vernünftigen Zustand der Gesellschaft nicht selbstverständlich, nicht der vernünftige und natürliche Zustand wäre.

Noch sehen wir, wie in unseren Volksschulen und in der Kirche unter dem Namen der Religion die alte Weltanschauung der Völker aus Moses Zeiten mit ihrem Glauben und Aberglauben gelehrt wird, wie dagegen die in vielhundertjähriger Geistesarbeit errungenen Ergebnisse der Wissenschaft vernachlässigt und verachtet werden.

Noch sehen wir, wie manche Machthaber, priesterlich wie weltlichen Standes, das freie Denken und die Vernunft fürchten und die Unwissenheit als Regierungsmittel befördern.

Wer bei solchen Zuständen von einer plötzlichen idealen Umwandlung der Gesellschaft träumen kann, der muss schon tief schlafen, um die Wahrheit nicht zu sehen.

Wer aber diese Wirklichkeit sieht, der erkennt auch bei der neuzeitlichen Teilung der Arbeit die spezielle und besondere Aufgabe unserer freireligiösen Gemeinden:

-     Befreiung des Volkes aus der bisherigen Geistesunmündigkeit,

-     Kampf gegen geistliche und weltliche Geistesunterdrückung,

-      Führung des Volkes aus dem Dunkel des Kirchenglaubens zum Licht vernünftiger Erkenntnis.

-      Schaffung einer freien Religion auf Grundlage der heutigen Wissenschaft.

Das ist die Aufgabe, die schwere und umfassende Aufgabe unserer Religionsgemeinschaft. Und
damit arbeiten wir an der Grundwurzel aller politischen und sozialen Reform und Besserung. Denn wenn die Zustände der Gesellschaft besser werden sollen, so müssen vor allem die Menschen besser, einsichtsvoller und vernünftiger werden. Die Menschen zu bessern ist die Arbeit der Aussaat, bessere gesellschaftliche Zustände sind die Frucht. Die Aussaat geschieht vornehmlich in der Schule, die Kirche soll zur Schule der Erwachsenen werden. Mag sich ein jeder von uns nach Neigung und Wissen an sozialistischen und politischen Vereinen beteiligen, die Aufgabe unserer Gemeinden als Gesellschaften ist eine religiös-kirchliche, eine Bildungsaufgabe.

Wer unsere Gemeinden von dieser seit mehr als einem Vierteljahrhundert betriebenen Arbeit abziehen will, wem diese Arbeit nicht erfreulich oder zu langweilig ist, wer unsere Gemeinden in unmittelbar politische oder sozialistische Vereine umwandeln will, der will ernten, wo nicht gesät ist; der zieht unsere Gemeinden ab von dem Arbeitsfeld, zu welchem sie berufen sind. Er missbraucht sie und verwirrt unsere Bestrebungen und unsere Ziele.


 

Nachschrift: „Grundgedanken der freireligiösen Gemeinden“ habe ich die obige Darstellung genannt, doch stets mit Rücksicht auf den unter uns bestehenden Grundsatz der freien Selbstbestimmung.

[Es] sind daher zunächst meine Gedanken [und] das Ergebnis meiner freien Selbstbestimmung. Sie beeinträchtigen die freie Selbstbestimmung meiner Genossen nicht. Sie sind [auch] nicht ein Glaubensbekenntnis im alten Sinne des Wortes, weil das Wesen unserer Gemeinschaft nicht ein festgestellter Glaube, sondern das freie Denken und die Erkenntnis ist.

Jahrtausende haben die Religionen des göttlichen Offenbarungsglaubens die Völker beherrscht, und ihr Glaubenszwang hat den Fortschritt unterdrückt [und] hat Sekten und Parteien ohne Zahl geschaffen.

Die Religion der Erkenntnis wird die Getrennten versöhnen.

Der Grundsatz der freien Selbstbestimmung ist zwar nur ein formaler, negativer Satz, [denn] er sagt nicht, wozu wir uns in freier Selbstbestimmung bestimmt haben. Allein jener Grundsatz ist demnach zunächst der praktisch nötigste. Er bezeichnet den Gegensatz gegen den bisherigen Zwang [und] er gibt der Vernunft ihre Freiheit und ihr ewiges Recht zurück. Er bezeichnet das Ende des vieltausendjährigen Glaubenszwangs [sowie] das Ende aller Glaubensunterdrückung und Glaubensforderungen. Jeder Offenbarungsglaube ist seiner Natur nach Zwangsglaube, und der Zwang erzeugt Parteien und Sekten und Streit. Die Freiheit ist Friede.

 

Ende

 

 

 

Hinweis des Herausgebers:

Die Schrift weicht insofern vom Original ab, als Rechtschreibung und Interpunktion modernisiert wurde.

Zur Verbesserung der Verständlichkeit, wurde selten aus einem übermäßig langen Satz zwei Sätze gebildet.

Überall dort, wo der Text in eckigen Klammern [...] gefasste Worte aufweist, handelt es sich um Hinzufügungen des Bearbeiters. Sie dienen ausschließlich der besseren Lesbarkeit und sollen die inhaltlichen Klarheit erhöhen.

Alle in runden Klammern (...) stehenden Worte [z.B. auf Seite 33] sind originale Hinzufügungen von Wilhelm Hieronymi.